In seinem Aufsatz “Beckmesser versus Stolzing Reflexionen zur Legalität unter der Anticirce-Bedingung” (feenschach 144, November-Dezember 2001, S. 275-277) beschäftigte sich Klaus Wenda mit Fragen der Legalität von Stellungen in Märchenschachaufgaben am Beispiel der Anticirce-Bedingung.
Bei Anticirce wird der Schläger (nicht das Schlagopfer wie beim “normalen” Circe) circensisch auf sein Feld in der Partieausgangsstellung zurückversetzt, der geschlagene Stein verschwindet. Ist dieses Feld besetzt, ist der Schlag nicht möglich. Ein schlagender wK erscheint also auf e1, eine schlagende sD auf d8. Beim Läufer ist das Ursprungsfeld aufgrund seiner Felderfarbe klar, bei Türmen und Springern nimmt man die Farbe des Zielfelds als Kriterium: Schlägt ein sT also nach b3, so wird er auf a8 “wiedergeboren”, bei einem Schlag nach b4 würde er auf h8 wiedererstehen. Für Bauern bestimmt die Reihe ihres Schlages das Wiedererstehungsfeld: Bei e4xd5 kommt der weiße Bauer also nach d2 zurück.
Nach dieser Definition ist unklar, ob ein Stein auf ihr Ursprungsfeld schlagen darf: Ist dies verboten (“Das Ursprungsfeld ist ja besetzt”), so spricht man vom “Typ Cheylan”; ist dies erlaubt (“Das Ursprungsfeld wird durch den Schlag ja frei”), so spricht man vom “Typ Calvet”.
Aus diesen Regeln ergibt sich z.B. dass eine Stellung wBe6, sBe4 illegal ist, d.h. unter Anwendung der Anticirce-Regel nicht erspielt werden kann (warum?).
Für “Vorwärtsspiel”-Aufgaben ist das eigentlich nicht wichtig, da “Legalität” von Stellungen normalerweise bei Märchenaufgaben nicht betracht wird. Anders aber ist es natürlich bei Märchen-Retros! Und dort können solche Fragen gar thematisch werden.
Dies wollte Klaus Wenda in seinem erwähnten Aufsatz an Hand eines “kleinen Schemas” in Form eines Verteidigungsrückzügers vom Typ Proca zeigen.
KW/3v 144 feenschach 2001, Lob
S#1 vor 2 Zügen, VRZ Proca, Anticirce Typ Cheylan (6+3)
sKa1 steht nicht im Schach, da d1 besetzt ist (also kein Dame-Schach) und auch a1 besetzt ist (Typ Cheylan, kein Turmaschach).
Der weiße König ist im Retrospiel auf e1 sehr mächtig, da er überall auf dem Brett einen beliebigen Schlagzug zurücknehmen kann (, nach dem er dann auf e1 gelandet ist).
Nun werden also drei Einzelzüge zurückgenommen (Weiß, Schwarz, Weiß), nach denen Weiß sein Selbstmatt erzwingen will. Und das geschieht so:
R 1.Ta7-a8! (hebt die Deckung von e8 auf) a4-a3/b3-b2 2.Ke7xTf6 [Ke1] & v: 1.Te1+ (Schach durch wDa2) Kxa2 [Ke8]#
Ja, das ist Matt: Der schwarze König steht durch seinen weißen Kollegen nicht im Schach, da e1 besetzt ist, bietet aber dem weißen Schach, dem er auch nicht entfliehen kann.
Nun betrachten wir noch einmal den Schlüsselzug: Warum nicht z.B. 1.Ta6-a8? Dann könnte Schwarz einfach 1.– b3-b2 zurücknehmen und wäre dann nicht zu Kxa2 [Ke8] gezwungen, sondern könnte das Matt des Weißen dann durch b3xa2 [Ba7] verhindern.
Und warum geht nicht R 1.a7-a8=T? Nun, das wäre genau die Illegalität (illegale Bauernstellung, siehe oben!), auf die es Wenda in seinem Artikel ankam: Sie ist natürlich in Retros nicht tolerierbar.
Dass Klaus mit diesem “kleinen Schema” eine riesige Lawine lostreten würde, weil Acticirce-Procas eine Fülle von komplexen Darstellungsmöglichkeiten bieten, das konnte er damals sicherlich nicht ahnen. Genau so wenig wie ich, als ich damals den Artikel ziemlich interessiert gelesen habe.
Wir werden hier im Blog auf Anticirce-Procas sehr bald zurückkommen.
Vielen Dank für dieses attraktive Retro der Woche 11/2013! Die wenigen Steine, die kleine Anzahl von Zügen und last but not least die ausführlichen Erläuterungen ermöglichen es, dass der Überblick über das Ganze und die vielen Feinheiten leicht fällt.
Als kleine (natürlich nicht sehr wesentliche) Frage bleibt mir noch zurück, warum es in der Forderung nicht “vor 1.5 Zügen” statt “vor 2 Zügen” heißt.
Hallo Urs,
zu deiner Frage: Die Bezeichnung ist schon so alt wie die Proca-VRZs selbst (also knapp 90 Jahre) — und sie macht auch Sinn, wie ich finde: Sie ist nämlich genau so wie im direkten (Vorwärts-)Spiel, auch ein #2 hat 3 Einzelzüge, weil Weiß beginnt und mattsetzt. (allgemein: ein #n hat 2*n-1 Einzelzüge).
Das in den Verteidigungsrückzüger zu übernehmen erscheint mir konsequent: Auch hier verteidigt (wie im direkten Matt) Schwarz, der letzte zurückzunehmende Zug muss von Weiß sein, da er ja das Vorwärtsspiel startet, und er beginnt auch sinnvollerweise, denn sonst würde ja Schwarz mit einem Verteidigungszug (oder mehreren Zügen) starten: Das wäre wahrscheinlich nicht so attraktiv.
Beim Hilfsmatt schaut es anders aus: Da suchen ja beide Seiten das gleiche Ziel zu erreichen, daher ist dort die gleiche Anzahl von weißen und schwarzen Einzelzügen viel sinnvoller als im direkten Spiel.
Auch im Selbstmatt gibt es gleich viele Züge von Weiß und Schwarz, aber auch das ist ja “direktes Spiel”, wobei nur Weiß ein anderes Ziel als im Direktmatt hat: Er hat sein Ziel erreicht, wenn Schwarz zu einem Mattzug gezwungen ist, daher spielt Schwarz logischerweise einen Zug mehr als im direkten Matt.
Danke, Thomas. Deine Ausführungen sind sehr überzeugend.