Klassische Auflöse-Retros und auch Beweispartien sind “Hilfsspiele”, bei denen Weiß und Schwarz zusammenwirken, um das Problemziel zu erreichen. Aber auch bei den Retros gibt es “Verteidigungsspiele”, in denen also Schwarz versucht, das Problemziel, das der Weiße erreichen will, zu verhindern, so wie man es von den klassischen Mattaufgaben kennt.
Bei den Verteidigungsrückzügern (VRZ) nehmen Weiß und Schwarz abwechselnd (selbstverständlich legale!) Züge zurück, wobei Weiß versucht, das anschließende “Vorwärts-Ziel”, meist ein Matt in einem Zug, zu erreichen, Schwarz dies aber durch geeignete Zugrücknahmen zu verhindern sucht.
Beim Rückwärtsspiel können natürlich Entschläge auftreten; man muss also festlegen, wer über einen Entschlag, falls er retroanalytisch zulässig ist, entschiedet. Beim “VRZ Proca” bestimmt die Partei, die den Rückzug gemacht hat, über die Art des Entschlags, beim “VRZ Høeg” die andere Partei. Außerdem kann sich Schwarz, so die Konvention, auch dadurch verteidigen, dass er selbst das Problemziel des Weißen erfüllt, also zum Beispiel mit einem Vorwärtszug matt setzt. Dies kann durch die Angabe “keine Vorwärtsverteidigung” ausgeschlossen werden.
Schauen wir uns also einmal einen “VRZ Proca” eines der größten Experten auf diesem Gebiet an:
Die Schwalbe 1981, Herbert Grasemann gewidmet 2. Preis
#1 vor 3 Zügen, VRZ Proca (7+11)
Weiß möchte die Batterie auf der langen Diagonale feuern; das ginge sofort mit R:1.Le4xSf3 & vor: 1.Txc7# (Hauptplan), scheitert aber an 1.– fxe4. Weiß versucht also, diese Verteidigung auszuschalten, indem er Schwarz zwingt, den Bauern zurück zu ziehen. Das allerdings schaltet (“dresnerisch“, wie die Problemisten sagen) einen Ersatzverteidiger, nämlich sTg5, ein, der dann auch noch ausgeschaltet werden muss.
Das erreicht Weiß mit dem Sicherungsspiel R: 1.La1-g7! (droht R: 2. Lh8xTa1 Ta2/3-a1+ 3.h7-h8=L & vor 1.h8=D/T#), was Schwarz dazu zwingt, die schwarzfeldrige lange Diagonale zu schließen, also 1.– f6-f5. Nun wird der Ersatzverteidiger ausgeschaltet (R: 2. Le5xTa1 Ta2/3-a1+), so dass der Hauptplan R:3.Le4xSf3 & vor 1.Txc7# durchschlägt.
Warum kann Weiß nicht sofort R: 1.Lh8-g7 zurücknehmen, das droht doch sofortiges Matt nach R: 2.h7-h8=L & vor 1.h8=D/T#? Nun, dann hat Schwarz Verteidigungsmöglichkeit, die Diagonale f3-a8 zu schließen, so dass Schwarz das drohende Matt mit 1.– Kxb7 leicht abwehren könnte: Dazu spielt er R: 1.– c4xb3 e.p.!!, und nun ist Weiß gezwungen, 2.b2-b4 zurückzunehmen, wonach mit R: 2.– d5xBc4 die Mattträume ausgeträumt sind.
Diese en passent Verteidigung ist nach R. 1.La1-g7! nicht möglich, da dadurch eine illegale Konstellation wLa1, wBb2 entstünde.
Ich hoffe, diese Aufgabe regt euch an, euch weitere Verteidigungsrückzuger anzuschauen? Das ist ein wirklich spannendes Gebiet, auf dem gerade diejenigen, die auch direkte Mattaufgaben, vielleicht besonders die neudeutsche Schule schätzen, voll auf ihre Kosten kommen!
Ich danke Dir, lieber Thomas, dass Du eine solch vorzügliche Erklärung der von mir so geschätzten Retro-Gattung des Verteidigungsrückzügers auf Deiner Seite bringst. Was die Beispiel-Aufgabe betrifft, so erinnere ich mich noch lebhaft an die Szene vor 30 Jahren im Berliner Lokal “Balken”, als ich der dortigen (eher konservativen) Problemrunde und damit auch ihrem Chef Herbert Grasemann die Widmungsaufgabe vorgeführt habe. Die Reaktion war reservierte Anerkennung in Anbetracht der befremdlichen Retro-Gedanken; ein besonderes Lob aber erhielt die logische Struktur.
Ja, gerade diese einzigartige Kombination aus Retro-Überlegungen und häufig logisch/neudeutschen Gedanken macht den Verteidigungsrückzüger für mich besonders attraktiv. Allerdings, das muss ich zugestehen, ist ein gewisses “Eindenken” (man könnte auch sagen “Einarbeiten”) in diese Gattung erforderlich, aber ich bin mir sicher: Die Mühe lohnt sich für diejenigen, die sich noch nicht so intensiv damit beschäftigt haben!