Im neuen Oktober-Heft der Schwalbe (ja, in der Zwischenzeit ist das Heft auch bei mir angekommen…) ist der sehr ausführliche Retro-Preisbericht 2010 erschienen: Der Preisrichter Thierry Le Gleuher hat gleich 31 Aufgaben ausgezeichnet – wenn das keine tolle Lektüre ist, dann weiß ich es nicht!
Allerdings will ich heute keine Aufgabe hieraus vorstellen, sondern ein Stück des Preisrichters, das mir immer wieder gefällt, das vor beinahe 20 Jahren sicherlich eine ziemliche Begeisterung hervorgerufen haben muss.
Phénix 1994, 2. Preis
Beweispartie in 19 Zügen (16+14)
Betrachten wir die Stellung, fällt sofort auf, dass bei Schwarz nur zwei sichtbare Züge vorhanden sind, dass andererseits die beiden Bauern [sBa7] und [sBg6] fehlen, die wegen der weißen Doppelbauern auf b und h nicht auf ihren Linien geschlagen worden sein können.
Damit wissen wir schon, dass mindestens eine Umwandlungsfigur noch auf dem Brett steht: Zunächst nämlich musste sich in schwarzer Offizier opfern, bevor einer der beiden fehlenden Bauern umwandeln konnte.
Das sollten wir im Kopf behalten, auch wenn wir nun zuerst einmal die weißen Züge zählen:
Hier stellen wir nämlich beim Nachzählen fest, dass Weiß alle 19 Züge benötigt, um seine Steine in die Diagrammposition zu bringen: 1K+2D+3T+5L+2S+6B.
Daraus lassen sich auch bereits einige Teilzugfolgen ableiten, z.B. c4-Dc2-De4-d3-Lf4-Lc7-f4, und erst nach den jeweiligen Läuferzügen konnte wSd2 und sBe5 geschehen. Ebenso ist beispielsweise klar, dass erst axb3-Ta6-Tc6 erfolgen musste, bevor Schwarz a5 spielen konnte.
Nun sollten wir überlegen, welcher schwarze Stein zunächst wo geschlagen wurde. Am wenigsten Züge würde Dd8-h4 benötigen, doch kann dies kaum der erste Schlagfall gewesen sein, wie wir an der Abhängigkeits-Kette der Züge oben schon gesehen haben: e5 kann erst nach Lf4-c7 gespielt werden, so dass erst danach Dh4 gezogen werden kann. Wahrscheinlicher ist da Db6-b3, was zwei Züge benötigt, damit sind wir zusammen mit den beiden Excelsiores und den beiden sichtbaren schwarzen Zügen bei 14, weiterhin muss dann wieder eine erwandelte Dame nach d8: Dies erfordert weitere zwei Züge, damit sind wir bei 16.
Somit bleiben nur noch drei schwarze Züge für das zweite Schlagen und den Ersatz des Schlagopfers. Das könnte funktionieren mit sTa8-a4-h4 und anschließendem a1=T-a8 – oder aber mit a1=D-Da4-Dh4; das wären sogar nur zwei Züge; in drei Zügen nach der Umwandlung ginge aucha1=D-Da5-Dd8-Dh4.
Aber genaues Hinsehen zeigt dann, dass die 4. Reihe nicht mehr offen sein kann, dass daher nur die dritte Möglichkeit funktionieren kann, und dann ist auch die Gesamtlösung nun nicht mehr allzu schwierig:
1.g3 c5 2.Lh3 Db6 3.Lf5 Db3 4.axb3 g5 5.Ta6 g4 6.Tc6 a5 7.c4 a4 8.Dc2 a3 9.De4 a2 10.d3 a1=D 11.Lf4 Da5+ 12.Sd2 Dd8 Pronkin 13.Lc7 e5 14.f4 Dh4 15.gxh4 Ceriani-Frolkin g3 16.Sgf3 g2 17.Tf1 g1=D 18.Lg6 Dg5 19.Kf2 Dd8 Pronkin.
Wir sehen hier also einen zweifachen Damen-Pronkin (ein Stein wird geschlagen, anschließend wandelt sich ein gleichfarbiger Bauer in einen Stein gleichen Typs um und zieht auf das Feld des Steins in der Partieausgangsstellung, den er ersetzt.), wobei sich die erste Umwandlungs-Dame zusätzlich opfert (Ceriani-Frolkin-Thema).
Ich teile die Begeisterung für dieses Problem und bin dankbar dafür, dass seine Schwierigkeit nicht allzu hoch ist, so dass auch jemand (wie ich), der nicht schon seit Jahrzehnten dabei ist, die Chance hat, die Lösung wenigstens zu erahnen. Die von dir, Thomas, gegebenen Betrachtungen und Hinweise waren mir dann weiter sehr hilfreich, und so klappte es dann effektiv (fast…!) mit dem Lösen.
Im erwähnten Preisbericht (Informalturnier 2010 der Schwalbe) wertet Thierry Le Gleuher bei verschiedenen Problemen die große Schwierigkeit als Pluspunkt. Erhöht sie wirklich den Reiz einer Aufgabe? Fändet ihr es cool, an Ostern auf die Suche nach Eiern zu gehen, die irgendwo in ganz Andernach versteckt sind? Oder machte es mehr Spaß, wenn uns der Osterhase zuflüsterte, dass sie sich im Kolpinghaus befinden…?!