Heute möchte ich euch dazu anregen, euch besonders mit den Motiven für ein im ersten Augenblick sehr überraschenden Manöver in unserer Wochen-Aufgabe zu beschäftigen, ein Manöver, das ich im ersten Moment nicht unbedingt erwartet hatte.
StrateGems 2010, 3. Preis
Beweispartie in 23 Zügen (13+13)
Wenn ihr die Aufgabe noch nicht kennt, so schlage ich vor, euch die Stellung genau anzuschauen, vielleicht fünf oder zehn Minuten ein wenig analysieren – habt ihr da schon eine Idee, um welches Haupt-Thema es sich handeln könnte und warum es gespielt werden muss?
Wie schon in der letzten Woche kommen wir mit dem Zählen der weißen und schwarzen Züge nicht allzu weit: Bei Schwarz sehen wir nur fünf Bauernzüge, bei Weiß sind es etwas mehr, nämlich immerhin 14 (2+0+0+2+1+9). Auch die Suche nach möglichen Umwandlungen hilft nicht weiter, da noch alle 16 Bauern auf dem Brett stehen.
Wenn wir schon nicht allzu viele Züge im Diagramm sehen können, sollten wir uns mit den Steinen beschäftigen, die fehlen: da alle von Bauern geschlagen wurden, wie man leicht an der Schlagbilanz sieht, müssen sie auch gezogen haben.
Beschäftigen wir uns zunächst mit den fehlenden weißen Steinen, den Türmen und der Dame. Sie müssen auf d5, e6 und f6 geschlagen worden sein. Dafür brauchen die Steine mindestens acht Züge – dies setzt voraus, dass ein Turm oder die Dame über f1 direkt nach f6 zum Schlag gelangt sein können. Ansonsten sind neun Züge erforderlich – und damit wären schon alle weißen Züge erklärt.
Nun überlegen wir uns die möglichen Schläge der fehlenden schwarzen Steine, der Dame und der beiden Läufer. Besonders interessant ist der schwarzfeldrige Läufer [sLf8]. Damit er herauskommen kann, muss Schwarz bereits auf f6 geschlagen haben. Wenn aber [wTh1] oder [wDd1] in zwei Zügen nach f6 gelangen sollen, muss bereits fxe für die Öffnung der f-Linie gespielt worden sein, und auch [wBg2] muss bereits gezogen haben, um f1 frei machen zu können. Dann aber darf [wBg2] nur nach g3 ziehen, um nämlich den [wLf1] in zwei Zügen nach e6 gelangen zu lassen – also ein Tempoverlust, der den Tempogewinn mit dem möglichen direkten Zug über die f-Linie wieder verspielt.
Also brauchen wir alle weißen Züge, haben dort keine Luft.
Nun haben wir vielleicht schon ein Gefühl dafür, dass die weißen Schläge auf dem Königsflügel kritisch sind: sie können nicht ganz früh passieren, da hierzu natürlich erst einmal die schwarzen Schlagopfer frei gespielt sein müssen, sie dürfen aber auch nicht erst spät möglich sein, da anschließend ja auch noch die weißen Schlagopfer über den Königsflügel herauskommen müssen.
Wenn ihr dann etwas experimentiert, werdet ihr feststellen, dass es für die Schläge der schwarzen Steine etwa in der Mitte der Lösung zeitlich sehr knapp wird –- dass, obgleich so viele schwarze Züge frei sind, [sDd8] in zwei Zügen auf e4 zum Schlagen erscheinen muss!
Und das bedeutet, dass vorher bahnend [sLc8] auf f3 geopfert werden muss. Und damit muss sich [sLf8] nirgendwo anders als auf a7 opfern – und zwar vorher, denn erst nach b6xLa7 kann Schwarz b6 ziehen, um den Läufer und die Dame zu befreien.
Wegen des „in zwei Zügen nach e4“ für die Dame muss [sTa8] sein Feld räumen: er kann dies nicht horizontal, da er damit die Dame verbahnen würde, und auch nicht vertikal, weil dort ja bereits wBa7 steht.
Also muss er ganz früh via a6 nach draußen verschwinden und kann dann nicht wieder auf normalem Wege zurückkehren, da dieser Weg durch wBa7 und sBb6 versperrt ist. Und damit haben wir zwei Möglichkeiten, die zumindest ich nicht sofort beim Blick auf das Diagramm gesehen hatte: Entweder Platztausch [sTh8]/[sTa8] oder schlagfreier Rundlauf des [sTa8].
Nach diesen Vorüberlegungen ist die Lösung immer noch, wie ich finde, recht knifflig, aber es lohnt, sich intensiv damit zu beschäftigen:
1.a4 a5 2.Ta3 Ta6 3.Tf3 Tg6 4.Tf6 gxf6 5.b4 Lh6 6.b5 Le3 7.f4 La7 8.b6 Sa6 9.bxa7 b6 10.Kf2 Lb7 11.Ke3 Lf3 12.gxf3 Da8 13.Lh3 De4+ 14.fxe4 Sh6 15.Sf3 Tgg8 16.Dg1 Tf8 17.Dg4 Sg8 18.De6 fxe6 19.Tg1 Kf7 20.Tg5 Ta8 21.Td5 exd5 22.Le6+ Ke8 23.f5 Sb8.
Also wirklich Rundlauf, der, wie ich finde, durch den völlig überraschenden Tempozug 17.—Tf8!! noch gewürzt wird. Mich hat die Aufgabe begeistert!
Nun könnte man natürlich noch (Stichwort “Ende der Beweispartie” von Bernd Gräfrath) diskutieren, ob die letzten sechs Halbzüge nicht angeklatscht sind, da der Rundlauf ja bereits mit dem 20. Zug beendet ist? Aber das „Einräumen“ der achten Reihe liefert nicht nur zwei Rückkehren, sondern verbirgt vor allen Dingen noch mehr den Rundlauf, da der Laufweg doppelt verstellt wird, so dass ich diese Züge für vollkommen gerechtfertigt halte.
Ja, „Zeit-unökonomisch“ im Sinne der reinen Themadarstellung, aber auch das sollte man nicht rein dogmatisch sehen, sondern immer die Umstände berücksichtigen. Und da halte ich es mit dem unvergessenen Herbert Grasemann, dessen 96. Geburtstag wir am gestrigen 21.12.2013 gedenken konnten, der so herrlich pointiert sagte: „Ökonomisieren heißt Haare schneiden, nicht skalpieren.“
Thomas, ich stimme Deinem (und Grasemanns) Ökonomie-Urteil vollkommen zu. Herbert Grasemanns prägnanten Satz kenne ich aus seinem Buch “Schach ohne Partner für Könner” (1982, 1986), Seite 30, in der folgenden Formulierung: “Ökonomisieren heißt Haareschneiden und nicht Skalpieren!”. Weiter heißt es dort: “[…] Ökonomie bedeutet nicht Sparsamkeit, sondern Wirtschaftlichkeit. […] Ökonomie ist kein absoluter Wert, sondern abhängig vom Dargestellten.” Damit steht Grasemann in der Tradition der Schöpfungsethik von Leibniz. Vgl. dazu meinen Aufsatz “Zur Bedeutung des Ökonomie-Prinzips”, feenschach: Zeitschrift für Märchenschach, Heft 145, Band XXVII (Januar-Februar 2002), S. 334-335, der auch online zugänglich ist unter
http://www.berlinthema.de/Bedeutung.htm