Wenn ein Löser kommentiert, die Lösung sei uninteressant, muss man als Preisrichter schon gute Gründe haben, dem Stück trotzdem den einzigen Preis in einem wahrlich nicht schwach besetzten Turnier zuzuerkennen — vor allen Dingen, wenn man dem Kommentar zumindest teilweise zustimmen muss.
Aber um es schon vorwegzunehmen: Dieser „Vorwurf“ kann sich höchstens an das schwarze Spiel richten.
StrateGems 2013, Preis
#1 vor 8 Zügen, VRZ Proca (10+15)
Im Verteidigungsrückzüger (VRZ) nehmen Weiß und Schwarz abwechselnd Züge zurück, dabei ist es Ziel von Weiß, eine Stellung zu erreichen, in der er die Vorwärts-Forderung (meist und so auch hier: #1) umsetzen kann, Schwarz versucht dies durch seine (natürlich legalen) Rücknahmen zu verhindern. Beim Typ Proca entscheidet die zurücknehmende Partei, ob und welchen Stein sie entschlägt.
Betrachten wir zunächst die Schlagbilanz: Bei Schwarz fehlt nur ein Stein, der auf der e-Linie geschlagen worden ist. Drei Schläge weißer Steine durch schwarze Bauern sind offensichtlich (axb, bxc, f7xe6), und mindestens zwei weitere Schläge sind erforderlich für die Umwandlung der beiden fehlenden schwarzen Bauern [Bg7] und [Bh7] für Th1 und Lg1.
Müsste nun Schwarz auf den weißen Hauptplan R 1.Kf5-g6? mit 1.– f7xSe6+ antworten, wäre Weiß bereits am Ziel, denn nach Rücknahme von 2.Sd4-e6 könnte er vorwärts mit 1.Sxc6 matt setzen. Aber schwarz verteidigt sich mit dem Entschlag irgendeines anderen weißen Offiziers, der im Mattsinne nicht hilfreich ist — und dieser Entschlag ist legal, da er dann als Umwandlungsstein auf a8 entwandeln könnte.
Dagegen spielt (1. Vorplan) Weiß nun R 1.Ld3-f1 Ta7-a6 2.e2-e3! Ta6-a7, damit hat Weiß nachgewiesen, dass [Lf1] ein Umwandlungsläufer ist, der sich auf a8 entwandeln muss. Nun geht aber der intendierte Hauptplan noch immer nicht, weil dann nämlich die Stellung illegal würde, da entweder [Bd2] oder [Bf2] nicht entschlagen werden könnten: Der vorher noch freie Schlag für Schwarz wird nun für den Origial-Läufer auf f1 benötigt!
Also muss Weiß in seinem zweiten Vorplan selbst dafür sorgen, dass einer dieser Bauern entsteht, nämlich durch Entwandlung auf f8, und dafür kommt nur Lc1 in Frage. Also R 3.Lh6-c1 Ta7-a6 4.Lf8-h6 Ta6-a7 5.f7-f8=L Ta7-a6 6.f6-f7 Ta6-a7 — nun ist der f-Bauer wieder auf dem Brett, und Weiß kann nun endlich den Hauptplan erfolgreich spielen: R 7.Kf5-g6 f7xSe6+ (f7xDTL?? illegal) 8.Sd4-e6 & vor: 1.Sxc6#.
Für mich ein toller Proca-Verteidigungsrückzüger der neudeutschen Schule: Der (gar nicht so fern liegende) Hauptplan scheitert aus retroanalytischen Gründen, denn auch andere schwarze Entschläge sind legal. Der rein retroanalytisch begründete erste Vorplan scheitert, weil nun die intendierte Zugfolge illegal wäre — und dieses neue Hindernis wird wiederum durch einen rein retroanalytisch begründeten zweiten Vorplan ausgeschaltet, so dass der Hauptplan nun durchschlägt.
Beide Vorpläne sind zudem zweckrein, sie dienen also ausschließlich dem Ausschalten der Hindernisse und haben nicht irgendwelche versteckten Zusatz-Zwecke für das Vorwärtsspiel.
Dass beide Vorpläne durch ein „Retro-Thema“ zusammengehalten werden, nämlich die beiden unschuldig dastehenden Läufer entpuppen sich als Umwandlungssteine, macht einen zusätzlichen Reiz dieses Stückes aus: Jeder Vorplan macht einen der Läufer zum Pronkin-Stein.
Für meinen Geschmack eine tolle Kombination aus neudeutschem Gedankengut und Retroanalyse, wie wir sie in Verteidigungsrückzügern finden können, für mich das beste der klassichen Retros dieses Jahrgangs.
Ich frage mich, warum man das Problem eventuell als uninteressant betrachten könnte. Vielleicht liegt das am besonderen Charakter der “Zweckreinheit”!? In einem gewissen Sinne könnte man ja sagen, daß eine Lösung “ökonomischer” ist, wenn durch ein Manöver bzw. durch einen Zug mehrere Effekte gleichzeitig verwirklicht werden. Aber die Verteilung der verschiedenen nötigen Manöver auf mehrere Züge macht die Lösung durchsichtiger, und das ist nach den Wertkriterien der neudeutschen Schule wohl höher einzuschätzen als ein geballtes Feuerwerk.
Na ja, das “uninteressant” bezog sich genau auf die schwarzen Züge; die strotzen ja auch wirklich nicht vor Abwechslung.
Ja, Zweckreinheit, “Zweckökonomie”, wie vielleicht der bessere Begriff ist, ist wirklich eine Frage der Ökonomie, nämlich der gedanklichen: Jedes Hindernis, das den Basisplan verhindert, ist (mit)entscheidend für die Wahl des Sicherungsplans, der Sicherungspläne — es wird nicht irgendein Hindernis nebenbei, quasi automatisch, mit beseitigt. Damit muss man das Problem gedanklich komplett durchdringen, um es lösen zu können.
Das macht für mich “neudeutsche” Aufgaben nicht nur bei VRZs, sondern auch im Vorwärtsspiel so reizvoll, auch wenn sie manchmal ein wenig spröde wirken können, wie auch hier wegen des “uninteressanten” schwarzen Spiels.
The heat has been seeping up to us from Germany; this may be the reason I am not as enthusiastic as isThomas about this Proca retractor: It is simply too hot to sit at the computer.
das diagramm passt nicht zum text?!
folge der hitze?!
gruß, urs
Danke, Urs! Das Diagramm passt schon zum Text, nur passte nicht die Steinkontrolle zum Diagramm 😉 Das habe ich korrigiert — und die Hitze wäre natürlich eine tolle Ausrede…
aha, gut.
dann werde ich jetzt mal mit grübeln anfangen, solange es noch erwas kühler ist!
guten sonntag!