Retro der Woche 39/2015

In der letzten Woche hatte ich einen Madrasi-Verteidigungsrückzüger von Klaus Wenda vorgestellt, in dem vier e.p.-Schläge vorkamen. Wie schaut der Rekord bei klassischen Retros ohne irgendwelche Zusatzbedingungen aus?

Der liegt bei drei — und ist nun schon hundert Jahre alt: kaum zu glauben! Dass dieses Stück eines der bekanntesten Retros überhaupt ist, ist deswegen nicht verwunderlich, speziell, da es zu einer Zeit entstand, als Retros noch fast „automatisch“ mit Vorwärtsforderungen wie etwa „Matt in zwei Zügen“ verbunden waren, sich fast auschließlich mit möglichst tiefen Begründungen für e.p.-Schlüsselzüge oder den Ausschluss von Rochaden beschäftigten.

Niels Høeg
20 Retrograde Analysis 1915
Welches waren die letzten Einzelzüge? (16+10)

 

Der schwarze König steht im Schach, Weiß muss also mit der Rücknahme beginnen. Bevor wir uns allerdings um diesen ersten Zug kümmern, betrachten wir zunächst wie üblich die Schlagbilanz.

Weiß hat noch alle Mann an Bord, sodass Schwarz nicht geschlagen haben kann. Damit ist vor allen Dingen sBb6 der [Bb7], und Weiß muss im Nordwesten zwei Mal geschlagen haben. wBd4 ist mit einem dritten Schlag der ursprüngliche [Be2], und damit haben auch die wBe6 und f6 zusammen drei Schläge ausführen müssen, da sie die [Bf2] und [Bh2] sind. Damit sind alle fehlenden schwarzen Steine durch Bauernschläge erklärt; Weiß kann also mit einem Offizier keinen Schlag zurücknehmen.

Damit ist auch der letzte weiße Zug bereits klar: Das kann nur R 1.Td8-d7+ gewesen sein. Nun beachtet bitte, wie elegant und luftig sDb2 und sTb1 retro-unbeweglich gemacht sind, so dass Schwarz nur 1.– d7-d6 zurücknehmen kann.

Um jetzt das Schachgebot durch wDh2 aufzuheben, ist ein e.p.-Entschlag erforderlich: 2.f5xe6e.p. e7-e5 3.f4-f5+.

Nun hat Schwarz wieder nur einen einzigen möglichen letzten Zug, der wiederum seinen König einem Schach — dieses Mal durch wLa3 — aussetzt, das wiederum nur durch einen e.p.-Schlag aufgehonen werden kann: 3.– Kd6-c7 4. b5xc6e.p.+ c7-c5 5. b4-b5+.

Aller guten Dinge sind drei, und so muss Schwarz wiederum in ein Schachgebot zurücknehmen: 5.– Ke6-d6, und auch hier kann das Schachgebot, dieses Mal durch den wLh3, nur durch die Rücknahme eines e.p.-Schlages aufgehoben werden: 6.g5xf6e.p.+ f7-f5 7. g4-g5+, und nun geht es einfach weiter zurück. Die fehlenden schwarzen Springer wurden auf b7 und d3/d4 entschlagen, der fehlende schwarze Bauer auf g3.

Zusammengefasst also die Lösung:

R: 1.Td8-d7+ d7-d6 2.f5xe6e.p.+ e7-e5 3. f4-f5+ Kd6-c7 4. b5xc6e.p.+ c7-c5 5. b4-b5+ Ke6-d6 6. g5xf6e.p.+ f7-f5 7. g4-g5+ usw.

Das sind also nicht nur drei e.p.-Rücknahmen, sondern gleizeitig auch 13 eindeutige letzte Züge. ein echtes Pionierstück für die aus heutiger Sicht „klassische“ Retroanalyse, das ich am Freitag auf der Schwalbe-Tagung in Aalen in meinem Vortrag zum 100. Jubiläum des Buches „Retrograde Analysis“ vorgestellt habe. Zu diesem Jubiläum wir noch ein Artikel in Die Schwalbe erscheinen.

Høeg war übrigens nicht nur ein großartiger Retro-Komponist, der auch den Verteidigungsrückzüger erfunden hat: Der Høeg-Typ erschien etwas früher als der Proca-Typ). Er hat darüber hinaus wichtige Beiträge zur noch jungen neudeutschen Schule der direkten Mattaufgaben geliefert und sich auch schon mit Märchenschach, selbst auf dem Retrogebiet, beschäftigt.

2 thoughts on “Retro der Woche 39/2015

  1. It is always enjoyable to play through this classic master-piece.
    After -1.Td8-d7 d7-d6, the check from Dh2 apparently could also be explained by -2.e5-e6?, but this renders Black retro-stalemate, so retraction of an e.p. capture is necessary. The subsequent e.p. captures are obviously necessary.
    I was a little disappointed, when I read ‘Retrograde Analysis’, but the book certainly contains some gems, and this problem is one of them.

  2. Vielen Dank für Deinen Aalener Vortrag mit dem Hoeg-Problem, Thomas! Alle Zuhörer (auch die Nicht-Retro-Experten) waren sehr beeindruckt. Ich freue mich auf die schriftliche Fassung Deines Vortrags zum Nachlesen.

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