Fast auf den Tag genau vor fünf Jahre habe ich den Retro-Preisbericht für den 2008er Jahrgang des niederländischen Probleemblad fertiggestellt, nachdem mich die Redaktion keine zwei Monate vorher gebeten hatte, die Richter-Vakanz für die Jahre 2007 und 2008 zu beenden.
Das war aus meiner Sicht ein bemerkenswertes Turnier: Quantitativ nicht gerade berauschend (nur 18 Aufgaben), aber von so hoher Qualität, dass ich sieben Stücke, also beinahe 40 Prozent, auszeichnen „musste“. Das mittig platzierte Stück möchte ich euch heute zeigen.
Probleemblad 2008, 2. ehrende Erwähnung
Beweispartie in 23 Zügen (13+13)
Bei Schwarz fehlen offensichtlich ein Turm, [Lf8] sowie [Bh7], bei Weiß [Lc1], [Ba2] und [Bh2]. Die drei offensichtlichen Bauernschläge waren dxc6, gxf6 und gxf3.
Das übliche Zählen offensichtlicher Züge hilft uns hier nicht allzu sehr weiter: 4+3+0+3+2=12 bei Weiß, gar nur 0+1+0+2+1+2=6 bei Schwarz. Drum schauen wir nun nach markanten Stellungsmerkmalen.
Der fehlende [Ba2] kann sich nicht umgewandelt haben: Hierfür hätte er drei Schläge benötigt, aber es stehen neben gxf3 nur noch zwei zur Verfügung. Ferner fehlt ein schwarzer Turm, dem Diagramm nach zu urteilen [Ta8] — wie ist der verschwunden?
Besonders auffällig sind aber die fehlenden h-Bauern beider Parteien, die irgendwie vom Brett haben verschwinden müssen. Und gehen wir davon aus, dass [Ba2] zu Hause geschlagen worden ist, so muss sich [Bh7] schlagfrei auf h1 umgewandelt haben, um entweder einen fehlenden Stein zu ersetzen (Phönix-Thema) oder sich dann zu opfern (Ceriani-Frolkin-Thema).
Dafür muss aber [Bh2] mindestens einmal geschlagen haben, und auch er muss sich dann umgewandelt haben, um ähnlich wie sein schwarzer Kollege entweder zu ersetzen oder zu verschwinden.
An diesen Überlegungen scheitert auch die mögliche Cook-Idee, [Ba2] auf c6 schlagen zu lassen, weil dann für [Bh2] kein Schlagobjekt mehr zur Verfügung steht.
Wenn man nun versucht, die Diagrammstellung zu erspielen stellt man fest, dass Weiß und Schwarz sehr schnell für die andere Partei Linien öffnen müssen, also aktiv Steine opfern müssen. und dies sind überraschend gerade [Th1] und [Th8], die auf diese Weise schnell auf c6 bzw. f3 verschwinden müssen. Was dann auf der h-Linie speziell mit den Türmen passiert, ist schon ungewöhnlich und bemerkenswert: [Bh7] kehrt nach Turm-Umwandlung nach h8 zurück (Pronkin-Thema), um sich genau dort von [Bh2] schlagen zu lassen (Hashimoto-Thema; Satoshi Hashimoto war 1999 die korrekte Erstdarstellung dieser Idee gelungen: P1114947), der dann als Pronkin-Turm nach h1 geht.
Damit ist dann der sT auf h8 genau [Ta8], der erst durch die lange Rochade nach dort gelangen kann; durch die Rückkehr des [Ke8] wird die aber verschleiert, stattdessen eine kurze Rochade-Grundstellung vorgegaukelt.
Mit diesen Hinweisen bekommt ihr nun bestimmt selbst die genaue Zugfolge heraus? Ansonsten ist das Stück sicherlich recht schwer zu lösen.
1.h4 h5 2.Th3 Th6 3.Tc3 Tf6 4.Tc6 Tf3 5.gxf3 dxc6 6.Lh3 Le6 7.Kf1 Lxa2 8.b3 Dd6 9.Lb2 Sd7 10.Lf6 gxf6 11.Le6 Lh6 12.Lc4 Lg5 13.hxg5 h4 14.g6 h3 15.g7 h2 16.Kg2 h1=T 17.Df1 Th8 18.gxh8=T OOO 19.Th1 Sh6 20.Kh3 Th8 21.Dg2 Kd8 22.Dg7 Sg8+ 23.Kg4 Ke8.
Mein Kommentar im damaligen Preisbericht zu dieser Aufgabe: “Nicht allein die Darstellung des Hashimoto-Themas (Schlag eines Pronkin-Steins) komplett auf der h-Linie ist Grund für die hohe Auszeichnung dieses Stücks, sondern vor allen Dingen die Verbindung mit dem sehr gut passenden Thema der „Antirochade“ (die durchgeführte Rochade ist im Diagramm nicht mehr sichtbar): Die Wiederbesetzung der h-Linie durch den schwarzen Dame-Turm fokussiert den Inhalt der Aufgabe zusätzlich.“
Der heutige Retroblog-Eintrag gibt Anlaß, mal über den Problemisten-Jargon nachzudenken (der Neuzugänge aus dem Partieschachlager ja oft abschreckt). Je weiter sich die Problemschachkunst (oder Problemschachwissenschaft?) fortentwickelt und spezialisiert, sind Abkürzungen für die Experten hilfreich; aber es wird eben auch esoterisch (im wörtlichen Sinne; also: nur für Eingeweihte zugänglich). Thomas, wir beide freuen uns ja an der Anekdote, wie Grasemann in satirischer Absicht das “Elbe-Thema” aus der Taufe gehoben hat (als mögliche Verbindung von Dresdner und Hamburger); und das ist inwzischen ebenfalls ein etablierter Begriff. An diesen Kontext mußte ich denken, als ich im heutigen Retroblog vom “Hashimoto-Thema” gelesen habe (und vorher schon mal vom “Prentos-Thema”). Ist es wirklich nötig, all diese Elemente mit einem eigenständigen Namen zu bezeichnen? Hier muß man eine schwierige Kosten/Nutzen-Analyse durchführen, und ich bin nicht sicher, was das Ergebnis ist.
Als Gegengewicht zu meiner Kritik habe ich aber auch noch einen Punkt, der in die Gegenrichtung weist: Sollte man vielleicht verschiedene Spielarten der “Antirochade” begrifflich unterscheiden? Normalerweise würde man erwarten, daß bei einer langen Antirochade des Schwarzen die beiden thematischen Figuren wieder auf ihren Ursprungsfeldern e8 und a8 auftauchen; aber die im vorliegenden Fall gezeigte Bewegung mit schwarzer 0-0-0 und anschließender Positionierung mit sKe8 und sTh8 (mit dem Turm, der in der Partieausgangsstellung auf a8 stand!) ist zumindest nahe verwandt. In der Tradition von Grasemann möchte ich dafür den Namen “Betrüger-Antirochade” vorschlagen. 😉
Ja, Bernd, ich bin auch kein Freund der überbordenden Spezial-Terminologie, da ich sie auch nicht unbedingt für hilfreich, häufig eher abschreckend halte. Dennoch habe ich hier diese “Fach-Termini” ganz bewusst erwähnt, weil Ignorieren aus meiner Sicht leider keine Alternative ist: Sie tauchen immer wieder auf und machen auch mir das Leben gelegentlich schwer. Also kann ich die Einstiegs-Schwelle vielleicht am besten dadurch senken, dass ich die Begriffe nicht einfach nutze, sondern den Sachverhalt beschreibe und in diesem Zusammenhang den Terminus “en passant” erwähne. So kann man wenigstens sofort etwas damit verbinden.
Andererseits weist du ja selbst auf das Begriffs-Dilemma hin: Ich hatte damals im Preisbericht bewusst darauf verzichtet, diesen Unterschied (komplette Rücknahme der Rochade versus Aufbau der “anderen” Rochadegrundstellung) durch einen neuen Fachbegriff zu beschreiben. Wäre das hier angebracht gewesen, wäre das einen neuen Fachbegriff wert? Ich weiß es nicht, auch wenn mir dein Vorschlag gut gefällt.
So oder so: Es wird Zeit, dass ich endlich das Retro-Lexikon ein wenig erweitere, so dass man die Termini Technici zumindest nachschlagen kann.
The term Hashimoto theme was new to me, and it seems to be yet another example of unnecessary terminology using composer names. It is unfortunate that we seem to be stuck with Frolkin-Ceriani and Pronkin, and somewhere we need to draw the line.
If not, the retro theme naming will end like the terminology for direct problems, where Grimshaw and Nowotny may be necessary evils, but Orlimont 1, Orlimont 2, and Orlimont 3 are just plain silly.
The help mate naming might point the way. The former composer names for things like 2.1;1.1 and 1.2;1.1 are never used anymore.
Very nice proof game, by the way, but too difficult to solve for my taste.