Heute möchte ich auf ein fünfzig Jahre altes Problem von Karl Fabel näher eingehen: Nicht nur, weil es eine Idee zeigt, die später mehrfach aufgegriffen wurde, sondern weil ich an diesem Problem ein historisches Diskussionsthema aufgreifen möchte.
Die Schwalbe 1966, 2. Preis
-12 & #1, VRZ Proca ohne VV (2+16)
Beim Verteidigungsrückzüger nehmen Weiß und Schwarz bekanntlich abwechselnd (natürlich legal) zurück, wobei Weiß das Ziel verfolgt, die Vorwärtsforderung zu erfüllen, was Schwarz zu verhindern sucht.
Beim Typ Proca entscheidet die zurücknehmende Partei, was sie (legal) entschlagen hat, beim Typ Høeg entscheidet dies die andere Seite. Der Zusatz „ohne VV“ (VV=Vorwärtsverteidigung) bedeutet, dass sich Schwarz nicht selbst durch Mattsetzen des weißen Königs verteidigen darf — genau hierauf werde ich am Ende dieses Beitrags noch zurückkommen.
Doch zunächst zur Lösungsidee: Weiß will seinen König nach g4 zurückholen, um dann mit dem Vorwärtszug 1.f5 Matt zu setzen. Hierfür verwendet er den sTa7 immer wieder, um ihn zum Schachschutz gegen die beiden sL im Südosten zu zwingen, so dass er Richtung g4 marschieren kann.
Weiß kann dabei nicht entschlagen, da alle 16 schwarzen Steine an Bord sind — und Schwarz kann z.B. mit dem Turm nicht irgendeinen störenden weißen Stein entschlagen, da alle 14 fehlenden weißen Steine durch schwarze Bauernschläge erklärt sind.
Die Lösung ist sehr elegant, das Problem hat es auch ins FIDE-Album (Nr. 683 im Album 1965-1967) geschafft:
R: 1.Ka8 Tb7++ 2.Ka7 Tb6++ 3.Kb7 Tc6++ 4.Kb6 Tc5++ 5.Kc6 Td5++ 6.Kc5 Td4++ 7.Kd5 Te4++ 8.Kd4 Te3++ 9.Ke4 Tf3++ 10.Ke3 Tf2++ 11.Kf3 Tg2++ 12.Kg4 & vor: 1.f5#.
Das Thema „Vorwärtsverteidigung“ war in der Retrowelt lange umstritten: Für den Høeg-Retraktor war von Anfang an klar, dass die Vorwärtstverteidigung vorgesehen war. Anders wäre es auch seltsam gewesen, denn Niels Høeg hatte seine Forderung auch für „Märchenschach-Partien“ vorgesehen: Partieausgangsstellung ist das leere Brett, dann setzen Schwarz und Weiß ihren König ein, anschließend beginnt die Rücknahme von Zügen gemäß der Høeg-Regeln, bis eine Seite die Partie beendet, indem sie nach Rücknahme ihres Zuges mit einem Vorwärtszug mattsetzt. Wäre hier die Vorwärtsverteidigung ausgeschlossen, wäre das ein langweiliges Spiel, bei dem Schwarz keine Chance auf einen Sieg hätte…
Anders schaut es beim Proca-VRZ aus: Dort war lange unklar, wie damit umzugehen sei, und diese Verwirrung wurde auch durch nicht immer fehlerfreie Übersetzungen von Definitionen weiter geschürt. Dies hat zuerst Günter Lauinger Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhnderts entdeckt und nachvollzogen. Wolfgang Dittmann hat dann im Rahmen seines Buches „Der Blick zurück“ weiter recherchiert und fand eine sehr frühe Aufgabe von Zeno Proca selbst, die mit Vorwärtsverteidigung mehrfach unlösbar gewesen wäre. Damit ist klar: Proca hatte bei seiner Erfindung die Vorwärtsverteidigung zumindest implizit ausgeschlossen.
Dennoch hatten mehrere Komponisten auch bei Proca-Aufgaben die Vorwärtsverteidigung genutzt — sei es als thematische Bereicherung (VV verhindert den Hauptplan, muss dann im neudeutschen Sinne durch einen Vorplan ausgeschaltet werden), sei es zur reinen und einfachen Verhinderung von Nebenlösungen.
Um nun die Regeln ein wenig übersichtlicher zu gestalten, hatte Dittmann vorgeschlagen, stets anzugeben, wenn eine Vorwärtsverteidigung ausgeschlossen sei — auch wenn das, wie wir nun wissen, eigentlich historisch gesehen nicht erforderlich wäre: Beim Proca-VRZ müsste eigentlich „mit VV“ angegeben werden, wenn sie im Gegensatz zur ursprünglichen Definition genutzt wird.
Dittmann verwies aus eigener Kompositions-Erfahrung darauf, dass „mit“ oder „ohne“ kein Qualitätsmerkmal eines Proca-VRZ sei — wie oben schon erwähnt, lässt sich diese Zusatzbedingung (!) zum Proca-VRZ thematisch tiefsinnig oder sehr billig nutzen.
Bei der Fabel-Aufgabe ist nach den neuen Konventionen der Hinweis „ohne VV“ erforderlich, da mit Vorwärtsverteidigung das Stück unlösbar wäre, etwa durch 1.– Tb7++ & vor: Tg8#.
Da die drei Typen “Høeg, Proca, Klan, and Pacific” erwähnt werden, möchte ich einen weiteren Typ nennen, der anscheinend noch nie kompositorisch verwendet wurde, in der Retro Mailing Liste aber einmal kurz vorgeschlagen wurde (ich habe vergessen von wem): Als Umkehrung von “Klan” entscheidet dann nicht immer Weiß, sondern immer Schwarz, ob (und was) entschlagen wird (im Rahmen des legal Möglichen). Der Einfachheit halber schlage ich für diesen Typ den Namen “Nalk” vor.
Ich fürchte, mit “Nalk” wird es sehr schwer, vernünftige Sachen zu bauen, da die Verteidigung doch unglaublich stark ist — aber ich lasse mich gern vom Gegenteil überzeugen.
Übrigens, ich dachte immer, nur Mathematiker könnten nicht zählen, aber Philosophen offensichtlich auch nicht… 🙂
Ich unterstütze voll und ganz die Auffassung, dass die VV(=Forward defense)
bei jedem Typ eines Verteidigungsrückzügers ausdrücklich ausgeschlossen werden muss, wenn sie nicht als voll gültiges zusätzliches Abwehrmittel wirken soll. Wolfgang Dittmann hat hier eine zeitgemäße und sachbezogene Lösung,
frei von allen auf unsicheren historischen Quellen aufbauenden Spekulationen gefunden.
KW
Ja, das ist eine Vereinfachung und sinnvolle Vereinheitlichung der generellen VRZ Regeln. Ich meine allerdings, man sollte vorsichtig sein mit der Umdefinition von Forderungen oder Bedingungen, das sollte man nur bewusst tun mit echten Vorteilen der neuen Regelung. Das ist sicher hier der Fall — und übrigens auch bei Anticirce, das ursprünglich anders eingeführt worden war und erst später, zunächst als “Anticice n.d.n.E” (Anitcirce nach den neuesten Erkenntnissen), so definiert wurde, wie wir die Bedingung heute kennen.
For an interesting Høeg retractor, derived from the Høeg retro game, see P0008816 in the PDB, with just the black king in the diagram position.
It makes perfect practical sense to have a single default rule regarding forward defence for all types of defensive retractors: Høeg, Proca, Klan, and Pacific (plus any future inventions). And as Høeg was (marginally) first in this esoteric genre, it makes sense to use his default: Forward defence is allowed, even though the Proca type has proved more fruitful.
This is indeed a very interesting discussion. Once again I am sorry that I cannot understand German to read WD’s book, but I think that his proposal is excellent. In this way, regardless of whether or not ZP included the forward defense in his original works, now his name can still be linked to the arguably “most orthodox” form of the retractor concept.