Die Beweispartien des Russen Rustam Ubaidullajew zeigen immer sehr originellen Inhalt fern jeglicher Schablone. Mir persönlich erscheinen sie auch (deswegen??) meist schwer zu lösen.
Heute habe ich ein schon etwas älteres Stück von ihm ausgegraben, an dem ihr meine Thesen selbst überprüfen könnt.
Schachmatnaja Komposizija 2003
Beweispartie in 23 Zügen (16+16)
Überlegungen zur Schlagbilanz etwa anhand von Doppelbauern können wir uns hier natürlich sparen, da ja noch alle 32 Klötze auf dem Brett stehen.
Auffällig an der Diagrammstellung ist sicher besonders wTd7, der ja „irgendwie“ über die achte Reihe auf sein Zielfeld gelangt sein muss. Und wie üblich sind das „Züge zählen“ und mögliche Schlussfolgerungen daraus auch hier eine Grundlage zur Lösung.
Schon bei der Betrachtung des weißen Königs und der weißen Dame sehen wir aber, dass einfaches Zählen nicht reichen wird: Wir werden sofort einige Überlegungen zu Zugabhängigkeiten einfließen lassen müssen.
So brauchen [Ke1] und [Dd1] jeweils nur einen Zug (beim König mittels Rochade), um auf ihr Diagrammfeld zu gelangen, aber dann muss die Dame vorher ausweichen. Oder sie kommt mit einem Zug aus, dann kann Weiß aber nicht rochieren, dann braucht der König zwei Züge nach c1 — und [Ta1] bleibt auch noch zu Hause stehen; er muss allerdings noch nach draußen.
Also drei Züge für die beiden; ferner sehen wir vier Springer- und fünf Läuferzüge bei Weiß, hinzu kommen noch fünf Bauernzüge, sodass wir auf 17 kommen; damit bleiben noch sechs für die Türme. Dann haben wir gar einen Zug übrig, denn scheinbar kommt der „Rochade-Turm“ [Ta1] in fünf Zügen nach d7?!
Das wäre zu schön, um wahr zu sein, aber in Wirklichkeit muss er ja noch entweder sBg5 oder sBa3 umkurven, sodass er gar sieben Züge brauchen würde.
Also sind unsere Überlegungen falsch? Nein, denn wenn [Th1] nach d7 marschiert, reichen dafür fünf Züge, denn er kann über h4 hinausgehen und damit sofort in den Rücken des sBa3 kommen. Den nun noch freien Zug brauchen wir dann für Td1-h1. Th4-a4 muss sehr früh erfolgen, nämlich vor d4, was aber schon für die Entwicklung des Damenflügels und die Rochade benötigt wird.
Damit sind (bis auf die genaue Reihenfolge der Springerzüge) die weißen Züge bereits vollständig determiniert, und wir konnten „nur durch Abzählen“ bereits den [Ta1] als „Betrügerturm“ entlarven, der nun auf h1 steht.
Wenn man nun versucht, in Gedanken den weißen Turm von a4 nach d7 zu bringen, stellt man schnell fest, dass er sich dabei mit [Ta8] in Konflikt gerät: Weiß muss Ta4-a8 ziehen, bevor er die a-Linie mit Lb7-a6 wieder versperrt. Also steht dann noch [Lc8] zu Hause. Wie aber kommen dann der weiße Turm und [Ta8] aneinander vorbei??
Überraschenderweise nur, wenn [Ta8] den Damenflügel via a6 verlässt! Und nach Td8-d7 kann dann [Th8] nach a8 gezogen werden – Platztausch der schwarzen Türme also!
Mit diesen Überlegungen sollte ein Großteil der Lösearbeit bereits gemacht sein, aber die Feinheiten des schwarzen Spiels und die genauen Verwebungen der weißen und schwarzen Züge ist dennoch ziemlich trickreich, wie ich finde:
1.h4 a5 2.h5 a4 3.Th4 a3 4.Ta4 Sh6 5.d4 Sf5 6.Lh6 g5 7.Sd2 Lg7 8.Sb3 OO 9.Dd2 Le5 10.OOO Lh2 11.g3 Ta6 12.Lg2 Tg6 13.Ta8 b6 14.Lb7 Sc6 15.La6 Lb7 16.Sf3 Db8 17.Th1 Da7 18.Td8 d6 19.Td7 Ta8 20.Lf8 h6 21.De1 Kh7 22.Sfd2 Tg8 23.f3 Th8.
Eine sehr schöne Aufgabe abseits der modernen „Umwandlungs-Wege“, wie ich finde.
Besonders beeindruckend finde ich, daß Rustam keinerlei technische Schläge benötigt: Alle 32 Steine sind am Ende noch auf dem Brett! Bemerkenswert ist auch, daß überhaupt keine Bauernumwandlungen geschehen: Hier gibt es noch viel Raum für neue Ideen, die von Komponisten erforscht werden können.
Dass wir allerdings mal eine (orthodoxe) Beweispartie mit 32 Steinen und Umwandlung sehen werden, wage ich zu bezweifeln: Wie soll denn der Bauer die Umwandlungsreihe erreichen können? 😉