Eigentlich ist das mit Rochade und en passant ganz einfach in Retros: War nachweislich ein Bauerndoppelschritt letzter Zug, so ist ein en passant Schlag zulässig. Die Rochade ist zulässig, solange ihre Unzulässigkeit nicht nachgewiesen werden kann.
Komplizierter ist der Fall, dass sich Rochaden und/oder en passant Schläge gegenseitig ausschließen, wenn also beispielsweise nachgewiesen kann, dass nur eine der beiden vom Diagramm her möglichen Rochaden zulässig ist, weil nachweislich einer der beiden Türme gezogen haben muss, aber nicht bewiesen werden kann, welcher von beiden.
Dann greift die Regel der „partiellen Retroanalyse“; die ist in Artikel 16.3 des Kodex wie folgt definiert:
Partielle Retroanalyse (PRA) Konvention. Falls die Rechte zu rochieren und/oder en passant zu schlagen wechselseitig voneinander abhängen, besteht die Lösung aus mehreren einander ausschließenden Teilen. Alle Kombinationen von Zugrechten, welche partiemöglich sind und die Rochade-Konvention und die En-passant-Konvention berücksichtigen, bilden diese einander ausschließenden Teile. Sofern im Fall der wechselseitigen Abhängigkeit von Rochaderechten eine Lösung gemäß der PRA Konvention nicht möglich ist, soll die Retro-Strategie (RS) Konvention angewendet werden: Diejenige Rochade wird als zulässig angesehen, die zuerst ausgeführt wird.
Übersetzung des Originaltextes von Werner Keym für den Nachtrag zum Dittmann-Buch)
Schauen wir uns das an einem Beispiel an:
Die Schwalbe 1971
#3 (13+8)
Die weißen Bauern haben alle fehlenden schwarzen Steine geschlagen, darunter auch [Ba7] und [Bb7], die beide umgewandelt haben müssen. Um das zu ermöglichen, muss [Ba2] von Schwarz geschlagen worden sein. Zusammen mit den beiden schwarzen Doppelbauern sind auch alle fehlenden weißen Steine erklärt.
Damit ist auch die Möglichkeit c6xXd5 als letzter schwarzer Zug ausgeschlossen, und es bleiben vier Spezialzug-Rechte: 0-0-0 zulässig, 0-0 zulässig, c5xd6e.p. unzulässig, g5xf6e.p. unzulässig. Für jede der Teilaufgaben gilt: Drei Rechte werden jeweils anerkannt, das vierte wird negiert, es wird zum gegenteiligen Recht.
Das sieht dann so aus:
1) Wenn 0-0-0 sowie 0-0 zulässig sind und c5:d6 e. p. unzulässig ist, dann geschah zuletzt f7-f5 und g5xf6e.p. ist erlaubt, daher 1.g5:f6e.p.! Txh5+ 2.Txh5 Txa1/g6xh5 3.Th8/T:xa8#.
2) Wenn 0-0-0 sowie 0-0 zulässig sind und g5xf6e.xp. unzulässig ist, dann geschah zuletzt d7-d5 und c5xd6e.p. ist erlaubt, daher 1.c5xd6e.p.! Ta5+ 2.Txa5 g2xh1=D/g6xh5 3.Lxg6/Ta8#.
3) Wenn 0-0-0 zulässig ist und c5xd6e.p. sowie g5xf6e.p. unzulässig sind, dann ist 0-0 nicht erlaubt, daher 1.Lf6! Txa1 2.Lxg6+ Kf8 3.Txh8#.
4) Wenn 0-0 zulässig ist und c5xd6e.p. sowie g5xf6e.p. unzulässig sind, dann ist 0-0-0 nicht erlaubt, daher 1.Ld6! Txa1 2.Lxg6+ Kd8 3.Txh8#.
Die wahrscheinlich erste dualfreie vierphasige Darstellung des Themas. Die erste vierphasige Darstellung stammt bereits aus dem Jahr 1907 (!!) von Niels Høeg (siehe P0002178 in der PDB).
Nebenbei bemerkt betrachtet man bei solchen Aufgaben einen letzten Zug des Königs nicht, da er ja beide Rochaden unmöglich machen würde — quasi eine „schwache Retroverteidigung“ von Schwarz.
Werner Keym hat sich intensiv mit den Themen der partiellen Retroanalyse und der Retrostrategie beschäftigt und auch wesentlich zur Klarstellung dieser eine lange Zeit lang sehr ungenau beschriebenen Themen beigetragen. Wer sich ein wenig näher damit beschäftigen möchte, dem empfehle ich sein Buch Eigenartige Schachprobleme (an der Lösungsdarstellung dort habe ich mich hier orientiert) sowie seinen Beitrag zu diesem Thema im bereits angesprochenen Nachtrag zum Dittmann-Buch.
Lieber Thomas,
es gelingt Dir immer wieder, komplexe Zusammenhänge sehr strukturiert und verständlich darzustellen. Dafür hast Du ein sehr geeignetes Problem ausgewählt. Vielen Dank.
Mein Artikel im Nachtrag zum Dittmann-Buch “Der Blick zurück” (Oktober 2016) ist die jüngste und ausgereifteste Darstellung zum Thema Rochade, En-passant-Schlag, Partielle Retroanalyse und Retro-Strategie.
Beste Grüße
Werner Keym