Schon bevor Silvio Baier das vorletzte Retro der Woche kommentiert hatte, hatte ich die vom ihm benannte Vergleichsaufgabe bereits für heute notiert — und dabei soll es auch bleiben. Es erscheint mir nämlich interessant, die beiden Stücke auch bezüglich der Konstruktion zu vergleichen.
StrateGems 2003, G. Donati gewidmet, 4. Preis
Beweispartie in 22,5 Zügen (16+14)
Es fehlen nur zwei schwarze Steine: [Bh7] und ein Springer. Der Bauer wurde auf seiner Linie geschlagen: er hatte je kein Schlagobjekt zur Verfügung; der Springer offensichtlich auf f3. Also stammt der wBf3 von e2, denn [Bg2] musste vor seiner Umwandlung (es stehen ja drei weiße Türme auf dem Brett!) noch [Bh7] beseitigen, um sich dann auf h8 umzuwandeln.
Der Turm steht dann natürlich bös im Weg: Schwarz muss ja seine Türme und auch seine Dame auf die h-Linie bringen. Dabei wird zumindest für die Türme das Feld h8 benötigt, das der UW-Turm also wieder räumen muss. Außerdem muss man sich Gedanken um Schachschutz für [Ke8] machen. Und nebenbei steht [Th8] schon der Umwandlung im Weg, muss deswegen im Vorfeld also sein Standfeld frei machen.
Nun kennen wir ja das Thema dieser Aufgabe schon vom Retro der Woche 48/2017, und daher will ich auch gleich die Lösung angeben (versucht trotzdem vorher, selbst zu lösen!!), damit wir uns dann noch ein wenig dem Vergleich beider Aufgaben zuwenden können.
1.g4 f5 2.g5 Sf6 3.g6 Tg8 4.gxh7 g6 5.h8=T Lh6 6.Th7 Le3 7.Tg7 Lc5 8.d4 Th8 9.Tg8+ Kf7 10.Kd2 Df8 11.Kc3 Dh6 12.Kb3 Dh4 13.Lh6 Sc6 14.Lg7 Th5 15.Th8 Se5 16.Th7 Sf3 17.exf3 b6 18.Se2 Lb7 19.Sc1 Th8 20.Lf8+ Ke8 21.Tg7 T8h6 22.Tg8 Sh7 23.Th8..
Es ist überraschend und kontra-intuitiv, dass die Turmumwandlung zum frühest möglichen Zeitpunkt erfolgen muss (Warum geht es nicht später?), da dann ja erst der Turm seinen schwarzen Kollegen im Weg steht. Andererseits ließe ein weißer Bauer auf der h-Linie erst Recht kein Herausspielen der Türme auf die h-Linie zu.
Was ist nun gemeinsam, was ist unterschiedlich bei den beiden Aufgaben? Um die Unterscheidung sprachlich einfacher zu machen, spreche ich von „RdW48“ als dem Stück von Lois und Osorio, von „RdW50“ als dem heutigen Stück von Caillaud.
- Bei RdW48 ziehen Türme in den Käfig, bei RdW50 aus dem Käfig. Das „hinein“ ist sicher komplizierter und schwieriger darzustellen.
- Trotzdem kommt RdW48 mit weniger Zügen aus.
- Dafür benötigt RdW50 deutlich weniger Schläge (2 gegenüber 5).
- RdW48 kommt ohne Umwandlung aus, während bei RdW50 der Umwandlungsstein gleichzeitig der Themastein ist.
- Interessant ist auch der Vergleich der Funktionen von wLf8 in RdW50 und sLa6 in RdW48: Den führt bitte selbst einmal durch.
In seinem Kommentar vor zwei Wochen hatte Silvio auch die unterschiedliche „Auszeichnungshöhe“ angesprochen, ohne das näher auszuführen. Hätten die beiden Aufgaben im gleichen Turnier gerichtet werden müssen, würde ich die Reihenfolge auch nicht verstehen. Aber erstens kann man, so meine ich, Auszeichnungen nur im selben Turnier vergleichen (wie oft habe ich z.B. schon gelesen: „Das Turnier war riesig stark, ein Lob hier wäre in anderen Turnieren für Preise in Frage gekommen.“ — und gerade der Schwalbe-2010-Jahrgang war sehr stark), und zweitens muss man auch sehen, dass das heutige Stück aus dem Jahr 2003 stammt, und seitdem die durchschnittliche Qualität der Aufgaben — und damit auch die Erwartungen der Löser, Kommentatoren und Richter — weiterhin deutlich gestiegen sind.
Quintessenz: Nicht die Auszeichnung entscheidet normalerweise, ob ein Stück nicht vergessen wird, sondern die Qualität des Stücks selbst!
It was interesting to compare the two proof games showing double round-trip by a rook. Apart from this common theme, they are entirely different and hard to compare. If they had appeared in the same tourney, I should probably have ranked RdW48 higher, but both are very impressive.
Erstmal vielen Dank an Thomas für die Besprechung auch dieser Aufgabe und die interessanten Diskussionsanregungen. Gerade letztere halte ich für eminent wichtig.
Grundsätzlich habe ich ähnliche Gedanken wie Bernd. Ein Preis ist normalerweise ein Preis und sollte auch immer einer sein. Ich habe auch schon ein Turnier ohne Lobe gerichtet. Manchmal ist man sich aber eben doch nicht ganz sicher, was die Klassifizierung angeht und in diesem Fall schaue ich auf die Gesamtqualität des Turniers. Manchmal kommt letzter Preis, manchmal 1. ehrende Erwähnung raus. Lob statt Preis sollte es m.E. nicht geben.
Zu den Auszeichnungshöhen: Ich meine in Erinnerung zu haben, dass das Caillaudstück nur deshalb den 4. Preis und keinen höheren bekommen hat, weil eine offensichtliche Umwandlungsfigur auf dem Brett steht. Diesem Argument konnte ich noch nie richtig folgen. Der Th8 ist der thematische. Wäre es wirklich sinnvoller, irgendwie Ta1 oder Th1 rauszuspielen und schlagen zu lassen? Was hätte das mit dem Thema doppelter Rundlauf zu tun? Irgendwelche Begründungen für schlagfreie Rundläufe muss man finden und Durchlassen von gegnerischen Linienfiguren ist vermeintlich die einzige Möglichkeit. Das Feld h8 ist ein logisches und die schnelle Umwandlung sorgt für gute Zeitökonomie. Man muss konstatieren, dass die Aufgabe von Osorio/Lois damals noch nicht bekannt war. Außerdem ist die Rückkehr Th8-g8-h8 noch ein netter Zusatz.
Osorio/Lois wollten das Ganze unbedingt ohne Umwandlungsfiguren darstellen. Man muss hierfür einen geeigneten Mechanismus finden. Das Durchlassen über a6-a8-c8 samt Schließen des Käfigs mit a5, b6 und Sc6 ist dabei fein erdacht. So erinnert das an das Loydsche 15er Puzzle. Ob in den Käfig hinein einfacher oder schwieriger ist, mag ich nicht einschätzen. Wahrscheinlich muss man einfach die richtige Idee für den Mechanismus oder das Schema haben. Thomas hat die Unterschiede sehr schön herausgearbeitet. Aus meiner Sicht ist Lois/Osorio trotz des Vorläufers originell genug für einen Preis. Leider fehlt im Preisbericht eine Begründung für die Einstufung. Der Preisrichter empfindet sogar den Ceriani-Frolkin-Läufer als positiv. Meines Erachtens ist ein solcher Zusatz irrelevant.
Über Urteile der Art „Das Turnier war riesig stark, ein Lob hier wäre in anderen Turnieren für Preise in Frage gekommen.“ habe ich auch schon öfter nachgedacht: Ist das wirklich angemessen? Der zeitliche Abstand zwischen RdW48 und RdW50 macht verständlich, weswegen es zu unterschiedlichen Auszeichnungen kam, denn seit dem früheren Problem ist das Kompositionsniveau ja allgemein angestiegen. Aber darf es wirklich sein, daß ein Problem entweder einen Preis oder ein Lob verdient, je nachdem, an welchem von zwei zeitgleich veranstalteten Turnieren es teilnimmt (und wenn es bei beiden Turnieren keine thematischen Vorgaben gibt)? Ich bin mir da nicht sicher; aber zumindest ist auch die alternative Betrachtungsweise bedenkenswert, daß in einem sehr starken Jahrgang (wie bei Die Schwalbe 2010) dann eben mehr Preise als üblich vergeben werden sollten.
Spannendes Thema! Ich sehe das auch ein wenig ambivalent: Kann man als Richter z.B. sagen: “Preis ist, wenn ich dem Stück im Album mindestens drei Punkte gäbe”? Dann hätte ich einen allgemeinen, immer noch abstrakten Werte-Maßstab, wo ich sagen könnte: Preis ist Preis — ob im Schwalbe-Informalturnier oder beim lokalen Jubiläumsthematurnier zu “75 Jahre Gut Holz Wanne-Eickel“.
Andererseits mache ich mir beim Richten normalerweise eine Rangfolge, eine Reihung: Platz 1 bis sagen wir Platz 18. Und wenn ich die fertig habe, mache ich mir endgültig Gedanken (vorher schwingt das natürlich schon immer mit) über “Was ist Preis, was ist eE, was ist (noch) Lob?” Und da spielt dann auch die “Gesamt-Qualität” des Turniers hinein: Vielleicht vergebe ich gar keinen Preis, vielleicht bin ich ja auch durch die Turnierausschreibung (“Je 3 Preise, eE’s und Lobe”) gebunden? Und ansonsten kann dann “Platz 5” bedeuten: “5. Preis” bei einem starken Turnier, aber auch “2. Lob” bei einem schwächeren?! Da spielt dann der “Drei-Punkte-Ansatz” auch wieder ein wenig hinein: Ein Preis muss schon eine gewisse (objetkive?!) Mindestqualität haben, damit ich “Preis” über das Diagramm schreibe.
Oder man macht es wie einmal Hemmo Axt (oder war es Jörg Kuhlmann? Nein, der vergab nach den gereihten Loben einmal auch gereihte “Tadel”: Das hat doch auch was: “3.-5. Tadel ex aequo” …), der einfach mit dem “3. Preis” seinen Bericht begann mit dem Hinweis, die Aufgaben seien für einen ersten oder zweiten Preis zu schwach gewesen. Das ist dann auch irgendwie wieder der Drei-Punkte-Ansatz…
Wer schreibt mal einen Artikel für die Schwalbe dazu — Arbeitstitel “Ist ein Preis ein Preis ein Preis?”