Verteidigungsrückzüger bilden bekanntlich die einzige Spezies der Retro-Probleme, bei denen Schwarz und Weiß nicht kooperieren: Hier hat Weiß ein klar definiertes Spielziel (zum Beispiel eine Stellung vor drei Zügen zu erspielen, in der er ein einzügiges Matt geben kann), gegen das sich Schwarz verteidigt.
Das ist also sehr gut vergleichbar mit direkten Mattproblemen. Und damit stellt sich auch schnell dir Frage, ob Verteidigungsrückzüger auch ähnliche Lösungsstrukturen aufweisen können wie direkte Mattprobleme, etwa eine logische Plangliederung. Und ebenso kann man nach dem Hauptgedanken neudeutscher Probleme fragen, nämlich diese Plangliederung „zweckökonomisch“ darzustellen.
Phénix 2015
#1 vor 3 Zügen, VRZ Proca (13+12)
Dies Fragen wollen wir am heutigen Beispiel einmal diskutieren.
Unter Weglassen allen Retrospiels könnte Weiß versuchen, sofort mit 1.Lxg5+ Matt zu setzen, aber da gibt es die Königsflucht 1.– Kxh3! Dagegen sehen wir vielleicht einen Plan, der diese Königsflucht verhindert? Dafür würde es ja ausreichen, den Springer durch Rücknahme von Zügen zu decken.
Wenn wir nun betrachten, welche Steine bei Schwarz fehlen, so sind dies die beiden Läufer sowie ein Turm und ein Springer. Also könnten wir auf den Vorplan kommen, auf h5 zu entschlagen und dann den Bauern zurück zu ziehen, sodass er dann Sh3 deckt. Das wäre also:
R 1.g4xLh5 (nach Entschlag eines Turms oder Springers kann der wegziehen und damit dem sK das Fluchtfeld h5 geben) beliebig 2.g2-g4 & v: 1.Lxg5# — dagegen kann Schwarz doch nichts machen?
Doch, er kann! Er spielt nämlich nach R 1.g4xLh5 Tb6-b3!, um dann nach 2.g2-g4 den Spieß umzudrehen und mit v: 1.– f4xg3ep# selbst matt zu setzen! Demnach müsste g2-g4 nachweislich der letzte weiße Zug gewesen sein – aber wir haben doch noch den wBb7, der schlagend gezogen haben kann?
Um zu sehen, dass dies eben nicht geht, müssen wir uns die weißen Schlagfälle anschauen: Neben g4xh5 haben wir noch h5xg6 und e4xf5, weil die schwarzen Schlagfälle schon komplett verbraucht sind (axb, bxc und h7xg6). Aber Weiß hat doch noch einen Schlag frei, warum geht dann nicht a6xXb7 als Alternativzug zu g2-g4? Nun, alle drei weißen Schläge auf dem Königsflügel fanden auf weißen Feldern statt. Es fehlt aber auch [Lf8], also der schwarzfeldrige Läufer. Der aber kann nicht auf b7 geschlagen worden sein. Also bleibt als letzter weißer Zug eindeutig g2-g4, sodass sich Schwarz durch den En-passant-Schlag mattsetzend wehren kann.
Dann kommen wir sicher schnell auf eine Idee, wie man unseren Vorplan durch einen weiteren Vorplan so absichern kann, dass die schwarze Vorwärtsverteidigung nicht mehr funktioniert?
Genau, wie spielen R 1.b6-b7, und wenn sich Schwarz nun analog mit Tb5-b3 verteidigt, nützt das nichts, denn nach 2.g4xLh5 beliebig 3.g2-g4 hätte nun Weiß als letzten Zug nicht nur g2-g4, sondern auch a5xLb6! – somit ist die ep-Schlag nicht zulässig, somit kann Weiß mit v: 1.Lg5# das Problemziel erfüllen.
Zusammengefasst also:
v: 1.Lxg5+? Kxh3!. Also R 1.g4xLh5 beliebig 2.g2-g4 & v: 1l:xg5#, aber 1.—Tb6-b3! 2.g2-g4 fxg3ep#! Also R 1.b6-b7! beliebig 2.g4xLh5 beliebig 3.g2-g4 (nun ist der ep-Schlag nicht zulässig) & v: 1.Lxg5#.
Eine logische Planstaffelung haben wir hier ganz deutlich, nun schauen wir uns an, ob auch die Vorpläne zweckökonomisch sind:
Der erste Vorplan hat ausschließlich den Zweck, den Sh3 zu decken; die Auswahl des Entschlags auf h5 erfolgt ausschließlich, um Schwarz kein Fluchtfeld zu geben. Der zweite Vorplan (R 1.b6-b7) dient ausschließlich dem Zweck, Schwaz die ep-Möglichkeit zu nehmen.
Damit haben wir die Zweckökonomie nachgewiesen; wir haben also einen „neudeutschen Verteidigungsrückzüger“ vor uns mit der Besonderheit, dass der erste Vorplan ausschließlich aus retroanalytischen Gründen scheitert und dieser Grund durch einen vorgeschalteten Vorplan ausgeschaltet wird — das kann natürlich im direkten Mattproblem nicht vorkommen!
Wer sich näher für die hochinteressanten Fragen neudeutscher Schachprobleme interessiert, dem möchte ich ganz besonders das buch von Herbert Grasemann Eines Reverends Einfall, der Geschichte machte (neu bearbeitet und deutlich erweitert von Hans Peter Rehm und Stephan Eisert) ans Herz legen. Es kann über den Herausgeber bernd ellinghoven oder den Bücherwart der Schwalbe bezogen werden.
White attempts -1.g4xLh5?, threatening -2.g2-g4 and 1.Lxg5#.
Black cannot do anything about the threat, but he can mate first!
-1… Tb6-b3! and 1… fxg3ep#; the en passant capture is permitted, because the preceding white move must be g2-g4, not a6xb7?? that would entail four white pawn captures on light squares, contradicting that the missing [Lf8] is dark-squared.
The simple Vorplan -1.b6-b7 prevents the en passant argument, and now Black has no defense against -2.g4xLh5 thr. -3.g2-g4 and 1.Lxg5#.
(Retracting g4xSh5? is no good, because Black can get a flight by retracting his uncaptured S (if he retracts Sg3-h5, he even also directly prevents the threat g2-g4).
Retracting g4xTh5? is no good, because Th5 guards the mating square g5.)