Vorbemerkung: Das heutige „Retro der Woche“ ist ein Gastbeitrag meines Sachbearbeiter-Kollegen Arnold Beine, der für Die Schwalbe die Märchenschach-Abteilung betreut. Und ein wenig märchenhaft ist auch sein Beitrag; herzlichen Dank dafür, Arnold!
Seit etwa einem Jahr findet man in den Retro-Abteilungen diverser Zeitschriften Diagramme, die aussehen wie ein — quadratisches — Nest mit Ostereiern. Die Eier zu finden ist nicht das Problem, aber den Inhalt zu erkunden, hält manche Überraschung bereit — also ein Nest mit Überraschungseiern. Die vermutlich erste Darstellung dieser Art stammt vom rumänischen Autor Vasile I. Tacu (1910-1993) und soll heute hier vorgestellt werden.
Europe Echecs 1991
Stellung nach dem 6. Zug von Schwarz, #1; 31 unbestimmte Steine
Worum geht es? Im Diagramm ist eine Stellung abgebildet, die nach dem 6. schwarzen Zug entstanden ist. Allerdings weiß man nur, welche Felder besetzt sind; aber von dem jeweiligen „Besetzer“ kennt man weder Farbe noch Steinart. Alles ist wie unter einem Nebelschleier verhüllt. Man weiß aber noch etwas: In dieser Stellung ist ein #1 möglich. Aus diesen wenigen Informationen soll der Löser die zur Diagrammstellung gehörige Beweispartie und den anschließenden Mattzug rekonstruieren.
Schon an dieser Stelle dürfte klar werden, warum Manfred Rittirsch in seinem Kommentar zu Nr. 17156 (Die Schwalbe 08/2017) von „originellem Detektivspiel“ sprach. Man weiß, dass der schwarze Monarch kurz vor einem Attentat steht, dass sich die eigentlich verfeindeten Lager kooperativ verhalten, dass sich maximal sechs Beteiligte aus jedem Lager bewegt haben, während der Rest den Part des unbeteiligten Zuschauers bzw. stummen Zeugen einnimmt. Und alle sind uniform vermummt, so dass man selbst Täter und Opfer nicht unterscheiden kann. Aber dass es ein Opfer im Vorfeld gegeben haben muss, kann man am Tatort erkennen, doch auch dieses ist zunächst noch vermummt und kann keinem Lager eindeutig zugeordnet werden.
Die Hinweise zur Lösung des Rätsels sind recht dürftig und die Spuren ziemlich vage, aber es gibt sie. Und wenn man diesen wenigen, kleinen Spuren und Hinweisen nachgeht, lässt sich ein solches Problem lösen. Mit ein bisschen Erfahrung hilft manchmal — wie bei einem Detektiv — auch das Bauchgefühl und dann geht es etwas schneller.
Schaut man sich das Diagramm an, ist anscheinend nicht viel auf dem Brett passiert. Im Vergleich zur PAS fehlt nur je ein Stein auf g1 und f7, dafür gibt es einen auf f5. Züge zählen wie bei normalen Beweispartien hilft hier kaum weiter. Die einzigen Informationen, die man ausnutzen kann, sind ein fehlender Stein, und dass in der Diagrammstellung Weiß im nächsten Zug mattsetzen kann. Dieser Spur gilt es nachzugehen. Wer setzt denn matt? Der Hauptverdächtige dürfte der wSg1 sein, dessen Feld vakant ist. Eine weitere wichtige Frage lautet: Auf welchem Feld steht der sK? Die naheliegende Antwort — sKe8 — führt dann zur nächsten Frage: Auf welchem Feld setzt der wS matt? Die Antwort kann dann, weil f7 ein Fluchtfeld ist, nur lauten: auf d6. Dies lässt sich aber leicht widerlegen. Es konnte höchstens ein sB geschlagen worden sein (31 Steine) und d6 ist dann auf jeden Fall noch gedeckt. Also wird der sK vermutlich nicht auf e8 stehen. Felder auf der 7. Reihe scheiden vermutlich ebenfalls aus, denn dort hätte der sK zu viele Fluchtfelder — außer, wenn eine wD von der 5. Reihe aus mattsetzen könnte. Also haben wir im Moment zwei Spuren: Ein Springer gibt ein ersticktes Matt mit dem sK auf der 8. Reihe oder eine Dame setzt den sK auf der 7. Reihe matt. Letzteres wird aber nicht gehen, denn die wD kann sich nur bewegen, wenn vorher ein wB Platz gemacht hat. Das Feld dieses Bauern müsste — eventuell vom wS — wieder besetzt werden, während die wD sich auf einem Feld im schwarzen Lager befinden müsste, dessen normaler Platzhalter — oder ein anderer durch sukzessive Verschiebung — nach d1 ziehen müsste. Das ist in sechs Zügen unmöglich zu schaffen.
Also doch zurück zur ersten Idee: Der wSg1 gibt ein ersticktes Matt mit dem sK auf der 8. Reihe. Dabei taucht wieder das o.g. Problem auf. Wenn der weiße Springer in sechs Zügen in das schwarze Lager eingedrungen ist, dann muss er auf einem schwarzen Feld stehen (also auch nicht auf f5), denn er kann allein kein Tempo verlieren. Der weiße Turm auf h1 kann da auch nicht helfen. Wenn der wS also im 7. Zug von einem schwarzen Feld aus mattsetzen will, bedeutet das, dass auch der sK auf einem schwarzen (!) Feld — also nicht auf e8 — stehen muss. Dafür kommen eigentlich nur d8 und f8 in Frage, denn die übrigen Felder sind zu weit entfernt. Und da f7 das am schwächsten gedeckte Feld im schwarzen Lager ist, dürfte nur d8 als Mattfeld für den sK in Frage kommen. Weiß benötigt nur vier Züge, um den wS nach h8 zu bringen, es bleiben also noch zwei übrig. Bei Schwarz sieht die Sache etwas komplizierter aus, denn es muss ein Verschiebebahnhof her, damit der sK nach d8 ziehen kann. Die sD müsste das Feld eines geschlagenen schwarzen Bauern einnehmen, der sK kann dann nach d8, der sSg8 folgt nach e8, der sTh8 nach g8 und der wS nach h8 und setzt auf f7 matt. Bleibt nur noch die Frage zu klären, welchen der schwarzen Bauern c7, d7 oder e7 der wS schlägt, damit die sD nachrücken kann. Da der wS nach h8 will, sieht man aber sehr schnell, dass dann nur der sBd7 in zwei weiteren Zügen abgeholt werden kann. Damit ergibt sich die Lösung 1.Sf3 f5 2.Se5 Sf6 3.Sxd7 Tg8 4.Se5 Dd7 5.Sg6 (5.Sf7?) Kd8 6.Sh8 Se8, und dann 7.Sf7#.
Natürlich wäre es für den Löser überraschend, wenn nicht der offensichtliche wSg1, sondern ein anderer Stein oder sogar ein Umwandlungsspringer den Mattzug ausführen würde – am besten noch mit Umwandlung im Mattzug, um auch den Puristen, die Umwandlungssteine im Diagramm nicht mögen, entgegenzukommen. Eine solche Darstellung wäre vergleichbar mit dem Pronkin-Thema in einer normalen Beweispartie. Auch hier wird dem Löser in der Diagrammstellung ein Originalstein suggeriert, der sich aber dann als Umwandlungsstein herausstellt. Ähnlich wäre es hier: In der Diagrammstellung ist das Feld eines Offiziers der mattsetzenden Partei unbesetzt. Aber nicht dieser Offizier gibt das Matt, sondern ein entsprechender Umwandlungsstein. Dieses „Ostereier-Thema“, wie ich es nennen möchte, dürfte sich orthodox nur sehr schwer darstellen lassen, weil die Eindeutigkeit der Zugreihenfolge ein großes Hindernis ist, vor allem, wenn der Offizier des unbesetzten Feldes noch auf dem Brett ist oder sich zumindest aktiv bewegt hat und nicht nur einfach auf dem Ausgangsfeld geschlagen wurde. Mit Märchenbedingungen lässt sich dieses „Ostereier-Thema“ aber durchaus darstellen. Mehr dazu in einer weiteren Folge.
Weitere orthodoxe Beispiele solcher „Tacu’s Enigmas“, wie sie in manchen Quellen auch genannt werden, finden sich unter superproblem.ru in der Sparte „Saturday Puzzle“ (No. 6 bis No. 13), allerdings sind dort die meisten inkorrekt. Das Prüfprogramm Jacobi hat sich hier als sehr hilfreich erwiesen. [Arnold Beine]
Nice that the proof game is unique.