Heute möchte ich euch ein weiteres Stück aus dem Schwalbe-Jahrgang 2015 vorstellen, das es ebenfalls ins Album geschafft -– so wie schon die Retros der Woche 33/2019 und 34/2019.
Die Schwalbe 2015
-2 & #2, Høeg Retraktor (16+11)
Schon bei der Forderung fallen zwei Besonderheiten auf: Wir haben es hier mit einem Verteidigungsrückzüger vom Typ Høeg zu tun, bei dem nicht der „Schläger“ bestimmt, welchen Stein er geschlagen hat, sondern das „Opfer“. Nach der Rücknahme eines Zuges betrachtet die andere Partei die Stellung und entscheidet, ob diese Rücknahme ein Schlag war, in diesem Fall kann er einen eigenen Stein als „Schlagopfer“ einsetzen. Dabei muss natürlich die Legalität der Stellung erhalten bleiben.
Und im Vorwärtsspiel haben wir es nicht mit dem üblichen #1 zu tun, sondern einem veritablen Zweizüger.
Darüber hinaus werden wir feststellen, dass sich Werner Keym hier auf sehr originelle Weise mit einem seiner Lieblingsthemen beschäftigt.
Für die Angabe der Lösung kann ich mich heute quasi komplett auf den Autor stützen, der die Aufgabe bereits in Andernach 2015 vorgestellt hatte:
Die weißen Bauern schlugen vier der fünf fehlenden schwarzen Steine. Ein Offizier schlug den fünften schwarzen Stein (D oder S oder B). Zuletzt sKd8-c8? wBb6:c7+/wBd6:c7+ ist illegal wegen zu vieler Schlagfälle. Das direkte Vorwärtsspiel 1.a5:b6e.p. a7:b6+ 2.S:b6# oder 1.e5:d6e.p.! e7:d6+ 2.S:d6# ist unzulässig, da zuletzt nicht nur b7-b5 oder d7-d5 möglich war, sondern noch Lb2-a1.
Diesen auszuschalten und damit den en-passant-Schlag als erfolgreichen Schlüsselzug zu ermöglichen, das ist das Ziel von Weiß. Der Retrozug 1.Db2-c1? schließt zwar Lb2-a1 aus und droht vorwärts 1.a5:b6e.p. oder 1.e5:d6e.p. nebst Matt und zusätzlich 1.D:b5 nebst 2.Da6,Db7#. Beides scheitert aber an der Ergänzung der sDc1. Die Dame konnte zuletzt ziehen und ist auch im Vorwärtsspiel erfolgreich: R: 1.– Dd1-c1 2.Tc1-b1/Se3-c4, vor 1.D:b5 Dg1+!/D:b1!
In der Lösung zieht der wTb1 zurück nach b2 und schließt Lb2-a1 als Retrozug aus. Damit soll eine Stellung erreicht werden, in der zuletzt entweder b7-b5 oder d7-d5 geschah und die Lösung 1.a5:b6e.p.! oder 1.e5:d6e.p.! gemäß der Partiellen Retroanalyse (PRA) möglich ist. Genau das will Schwarz durch die Wahl des Ergänzungssteins auf b1 bekämpfen. Ein Bauer verbietet sich dort natürlich. Ein Turm oder Läufer ist nicht erlaubt, da diese im Diagramm vorhanden sind und kein schwarzer Bauer umwandeln konnte.
Somit ergeben sich drei thematische Varianten: I) kein Ergänzungsstein, II) eine Dame, III) ein Springer.
I) 1.Tb2-b1! (keine Ergänzung?). In dieser Stellung geschah zuletzt entweder b7-b5 (was die Mattführung 1.a5:b6e.p.! ermöglicht) oder d7-d5 (was die Mattführung 1.e5:d6e.p.! ermöglicht). Also ist diese Kurzvariante (1 Zug zurück, 2 Züge vorwärts) ein Problem mit einer Lösung, die aus zwei sich ausschließenden Teilen besteht, d.h. ein zweiteiliges PRA-Problem.
II) 1.Tb2-b1! (+sDb1?). Auch hier geschah zuletzt entweder b7-b5 (was die beabsichtigte Mattführung 1.a5:b6e.p. jedoch durch 1.– D:b2! verhindert) oder d7-d5 (was die Mattführung 1.e5:d6e.p.! ermöglicht). Deshalb ist weiterer Retrozug erforderlich. Schwarz muss b7-b5 oder d7-d5 zurücknehmen: 1.– b7-b5 2.La4-c2 & vor 1.c6:b7# oder 1.– d7-d5 2.Le4-c2 & vor 1.c6:d7#. Diese Kurzvarianten (2 Züge zurück, 1 Zug vorwärts) bilden kein PRA-Problem.
III) 1.Tb2-b1! (+sSb1!). Hier verteidigt sich Schwarz nicht mit dem schwachen Retrozug 1.– d7-d5? oder 1.– b7-b5? (wie in der Kurzvariante II), sondern mit 1.– Sa3-b1!, was den sofortigen en-passant-Schlag nicht zulässt. Die weiße Antwort ist der unscheinbare Retrozug 2.Db1-c1!. Nun konnte der sSa3 zuletzt nicht ziehen, und Schwarz hat keinen Ergänzungsstein mehr. Damit ist erneut eine Stellung erreicht, in der zuletzt entweder d7-d5 oder b7-b5 erfolgen musste. Dies ermöglicht wieder die Lösung entweder 1.e5:d6e.p.! e7:d6+ 2.S:d6# oder 1.a5:b6e.p.! a7:b6+ 2.S:b6#. Also ist die vollzügige Hauptvariante (2 Züge zurück, 2 Züge vorwärts) ein zweiteiliges PRA-Problem.
Das dürfte die erstmalige Verbindung eines Verteidigungsrückzügers mit dem Thema der partiellen Retroanalyse PRA sein.
PRA ist laut Codex (Artikel 16.3, Satz 1 und 2) wie folgt definiert (die deutsche Übersetzung stammt von Werner Keym):
Falls die Rechte zu rochieren und/oder en passant zu schlagen wechselseitig voneinander abhängen, besteht die Lösung aus mehreren einander ausschließenden Teilen. Alle Kombinationen von Zugrechten, welche möglich sind und die Rochade-Konvention und die En-passant-Konvention berücksichtigen, bilden diese einander ausschließenden Teile.
Das Stück lohnt also, dass ihr es euch genauer anschaut!
Very interesting: partial retroanalysis logic in a Høeg retractor.