Retro der Woche 49/2021

Bleiben wir noch ein wenig bei Klassikern der Retroanalyse. Heute möchte ich euch nicht nur eine gute Aufgabe von Thomas Rayner Dawson vorstellen, sondern dabei besonders auf ein Konzept eingehen, das er schon sehr weit entwickelt hat, das auch heute noch fruchtbar eingesetzt wird: Das der Retro-Opposition.

Thomas R. Dawson
The Chess Amateur — dedicated with love to my wife
Wer gewinnt? (11+15)

 

Leicht zu sehen gewinnt der, der am Zug ist — so würde man heute vielleicht einfach fragen, aber zu der Zeit war noch die Verbindung zum Vorwärts-Problem, hier also einer „Studie“, sehr eng; die Emanzipation dazu geschah erst nach dem 2. Weltkrieg.

Aber was ist nun mit „Retro-Opposition“ gemeint? Da möchte ich zwei Definitionen zitieren, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlich sind, sich aber als äquivalent herausstellen. So etwas kommt ja gelegentlich auch in der Mathematik vor.

Dittmann (Der Blick zurück, S. 50) definiert: „Zwei verschiedenfarbige Figuren kommen sich hier in der Weise in die Quere, dass sie aus Tempogründen zur gleichen Zeit dasselbe Feld — oder zwei von einander abhängige Felder — betreten müssen.“

Frolkin (in Velimirović & Valtonen: Encyclopedia of Chess Problems) formuliert es so: „In a particular phase of the retro-play, it can be proved which side is to play, despite there being mobile units on both sides.“

Nun schauen wir uns die Aufgabe genauer an und versuchen dabei, unser Thema zu entdecken.

Der einzige Schlag von Weiß geschah auf die g-Linie, die schwarzen Schläge müssen dann axb, bxa, cxBd, dxe und hxg gewesen sein. Damit muss der weiße Schlag fxg gewesen sein, anders kann [Bf2] nicht verschwunden sein. Und damit musste [Bh2] schlagfrei umwandeln, um verschwinden zu können.

Nun halten wir Ausschau nach den zwei verschiedenfarbigen Figuren, die retro-beweglich sind, sich also in die Quere kommen können: Das können nur wTf6 und sSg8 sein. Und als thematisches Feld gemäß der Dittmann’schen Definition liegt f5 nahe: Will sSg8 „nach draußen gehen“, dann muss er über f5 gehen. Und wenn dann Weiß Tf5-f6 zurücknehmen will, geht das nicht, er muss stattdessen einen anderen Zug zurücknehmen. Dafür kommen, bevor etwas entschlagen werden konnte, nur Züge des [Bc2] in Frage.

Lassen wir nun versuchsweise Schwarz mit der Rücknahme beginnen: R: 1. Sh6-g8 Tf5-f6, so würde Schwarz gern selbst nach f5 zurück gehen, aber dieses Feld ist nun vom weißen Turm besetzt. Also muss r es nun über f6 versuchen: 2. Sg8-h6 c4-c5 3. Sf6-g8 c3-c4 4. Se4-f6 Tf6-f5 5. Sc5-e4, und nun würden wir gern 5.– Sf6-d7 zurücknehmen, aber das geht nicht, da f6 besetzt ist: die zweite Retro-Opposition. Also 5.– Tf5-f6 6. Se4-c5 c2-c3 7. Sc5-e4 Sf6-d7 8. Sd7-c5+ Sg8-f6 9. Tf6-f7, und nun müssen wir wieder „oszillieren“: 9.– Sh6-g8 10. Tf7-f6 mit der dritten Retro-Opposition: 10.– Sg8-h6 11.Tf6-f7 Sh6-g8 12. a5-a4 Das dritte thematische Tempo! 12.– Sf7-h6, um dann den Springer auf h8 zu entwandeln, um dann später h5xXg4 zurückzunehmen und damit die Stellung aufzulösen. Aber dazu kommt es nicht mehr, weil Schwarz nun Retropatt ist!

Also müssen wir den Anzug ändern — und das wollt ihr nun sicherlich selbst probieren? Nach dem Fehlversuch ist das nicht mehr allzu schwierig!

Lösung

R: 1. Tf5-f6 Sh6-g8 2. Tf6-f5 Sf5-h6 3. c4-c5 Sd4-f5 4. Tf5-f6 Sb3-d5 5. c3-c4 Sc5-b3 6. Sf6-d7 Sd7-c5+ 7. Sg8-f6 Tf6-f7 8. Sh6-g8 Tf7-f6 9. c2-c3 Tf6-f7 10. Sf7-h6 a5-a4 11. Sh8-f7 Tf7-f6 12. h7-h8=S usw.

Also ist Schwarz am Zug und gewinnt mit z.B. Txc6 und Matt im nächsten Zug.

Diese Aufgabe war die letzte in der angesehenen „Märchenschach“ Kolumne des Chess Amateur. Dawson hatte dem Stück neben der Widmung noch ein Motto mitgegeben: „Three Kisses“, das sich nun leicht erschließt.

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