Retro der Woche 03/2022

Viele von euch wissen sicherlich, dass ich bei den orthodoxen Verteidigungsrückzüger besonders gern solche mit logischer, möglichst auch noch zweckökonomischer (also „neudeutscher“) Vorplanstaffelung mag. Und wenn dabei dann auch noch retroanalytische Überlegungen und Strategien eine wichtige Rolle spielen, bin ich recht schnell begeistert.

Ein solches Stück möchte ich euch heute vorstellen und zum gründlichen Studium ans Herz legen.

Joaquím Crusats & Andrej Frolkin
StrateGems 2010
#1 vor 13 Zügen, VRZ Proca (13+11)

 

Wir erinnern uns: Beim Verteidigungsrückzüger des Typs Proca entscheidet die am Zug befindliche Partei, ob (und wenn ja was) mit der Rücknahme entschlagen wurde; die Stellung muss natürlich legal bleiben.

Weiß muss in der heutigen Aufgabe nicht nur auf die Erreichung seines Vorwärtsziels achten, sondern dabei auch ein schwarzes Retropatt vermeiden: In der Diagrammstellung hätte Schwarz am Zug keine Rücknahmemöglichkeit. Die drei fehlenden weißen Steine wurden mittels gxf6 sowie hxgxf2 geschlagen; keiner dieser Schläge kann im Moment zurückgenommen werden, und alle anderen schwarzen Steine sind retro-unbeweglich.

Der Weiße könnte mittels R 1.Sg5-h7 Th7-g7? 2.Lg4-h5 & vor 1.Txh7# schnell mattsetzen, allerdings verteidigt sich Schwarz besser mit 1.– Lh7-g8, denn hiernach muss Weiß das Schach durch Tb8 aufheben und damit die schwarze Stellung befreien.

Hier setzt die Überlegung für den Vorplan an: Wenn Weiß in der Diagrammstellung das Turmschach nicht aufheben könnte, wäre 1.– Lh7-g8 illegal, und der Hauptplan würde durchschlagen. Weiß will also durch den Vorplan die eigene Bewegungsfreiheit einschränken; das gibt es im Vorwärtsspiel nur im Zusammenhang mit Patt, ist also ein retro-typisches Motiv. Unter „Beschäf-tigungslenkung“, um den Begriff aus dem direkten Mehrzüger zu verwenden, zwingt Weiß seinen Konterpart im Vorplan dazu, einen Bauern nach b7 zurückzuziehen, dann ist der Hauptplan von Erfolg gekrönt.

Dabei kann Weiß bis zu drei Entschläge vornehmen: Im Diagramm fehlen Schwarz fünf Steine, von denen zwei mittels cxd7 und hxg geschlagen wurden.

Den [Bd7] kann Weiß sicher nicht mit seinem Turm entschlagen, da sich dann Schwarz befreien kann. Also bleibt dazu nur der weiße König übrig. Und der muss natürlich auf seinem Weg nach b3 (um dann Kc2xBb3 zurückzunehmen) Schwarz einerseits Zugmöglichkeiten geben, andererseits ihn so beschäftigen, dass er seinen Turm auf a8 nicht befreien kann.

Da ist es sicherlich spannend, selbst Löseversuche anzustellen?!

Lösung

R 1.Tc8-b8 Tb8-a8 2.Kc2xTd2 (notwendiger schwarzer Temposchöpfer) 2.– Td1-d2+ 3.Kb3-c2 Ta8- b8+ (und schon wieder zurück) 4.Kc2:Bb3 (der thematische Bauer) 4.– b4-b3+ 5.Kc1-c2 Td2-d1+ 6.Tb8-c8 b5-b4 7.Lg4-h5 b7-b5! (7.– b6-b5 ginge überraschenderweise schneller: 8.Lg4-h5 b7-b6, und nun geht schon der Hauptplan; nun muss Weiß noch ein Tempo verlieren.) 8.Kc2-c1 Td1-d2+ 9.Kb1-c2 Td2-d1+ 10.Lh5- g4 Tc2-d2 11.Kc1-b1 Td2-c2+ (Jetzt ist die Diagrammstellung mit dem zusätzlichen sBb7 – sowie dem irrelevanten, weil retro-zugunfähigen sTd2 – entstanden, und der Hauptplan funktioniert.) 12.Sg5-h7 Th7-g7 13.Lg4-h5 & vor 1.Txh7#.

Auf der Schwalbetagung in Güstrow habe ich in einem Vortrag am 1.10.2016 einige solcher „Retro-Retraktoren“ – ihr versteht nun diesen provokanten Begriff richtig – vorgestellt; daraus wurde im Dezemberheft 2016 der Schwalbe ein Aufsatz (S. 660—663) gleichen Namens. Dort ist unsere heutige Aufgabe die 3; an diesem Artikel orientiert sich auch die Besprechung hier im Blog.

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