Wer sich über den Stand der Retroanalyse vor etwa 25 Jahren informieren möchte, dem lege ich die Schwalbe-Hefe 232 und 233 (August bzw. Oktober 2008) ans Herz: Dort hatte das Richter-Trio Brand, Gruber und Ring als Ersatz für die ursprünglich nominierten Richter die noch fehlenden Berichte für die Urdruck-Jahrgänge 1999 – 2001 übernommen.
Auffällig ist, dass zu der Zeit „klassische Retros“ den Ton angaben, dass bei den Beweispartien eindeutig Satoshi Hashimoto dominierte. Seinen 1. Preis und die 2. ehrende Erwähnung 2000 hatte ich bereits in den Retros der Woche 03/2020 und 35/2020 vorgestellt. Heute nun sein 4. Preis aus dem 2001er Turnier — wieder die bestplatzierte Beweispartie.
Die Schwalbe 2001, 4. Preis
Beweispartie in 17,5 Zügen (14+15)
Das übliche Zählen der sichtbaren Züge führt hier wahrscheinlich zunächst einmal zu Frust, wir wollen es aber trotzdem einmal machen: 0+0+0+0+3+3=6 bei Weiß, 3+2+0+2+1+3=11 bei Schwarz. Ganz so dramatisch ist es vielleicht nicht, weil ja auch noch die weiße Dame und ein Turm geschlagen werden müssen. Zumindest an der Bauernstruktur sieht man aber nicht, wo sie geschlagen worden sein können — vielleicht [Th1] zuhause im Südosten?
Bei Schwarz fehlt nur ein Bauer. Der konnte sich allerdings nicht direkt auf f3, dem sichtbaren Schlagfeld, opfern; er musste also umwandeln, um sich dann selbst auf f3 a la Ceriani-Frolkin zu opfern oder den dortigen Opferstein als Phönix zu ersetzen.
Für dieses Manöver stehen insgesamt nur sechs Züge zur Verfügung, da wir ja 11 bereits „im Diagramm sichtbar“ verbraucht haben. Wie kann das funktionieren?
Eine Ceriani-Frolkin-Umwandlung scheidet aus, da dafür Dame oder Läufer auf d1 erwandelt werden müssten, um dann gleich nach f3 zu ziehen. Das geht aber nicht, da dann [Be2] im Wege steht.
Also muss auf b1 eine schwarze Dame erwandelt werden, die dann nach e4 zieht — und es opfert sich die Originaldame via f6 auf f3. Das benötigt in Summe acht Züge, spart allerdings die bereits „eingepreisten“ zwei schwarzen Damezüge Dd8-h4-e4 ein.
Das muss relativ früh erfolgen, damit sich Weiß nach z.B. mit d3 entfalten kann. Und damit löst sich auch schnell die Illusion „Schlag des [Th1] im Südosten“ auf …
Wenn ihr nun versucht zu lösen (die schwarzen Züge stehen ja bereits komplett fest), werdet ihr noch ein paar weitere Überraschungen finden!
Dass also Ta1 und Sb1 „Geschwister-Steine“ sind, die vom Königsflügel kommen, sieht man sicher nicht sofort (beim Turm zumindest erst nach der Umwandlungs-Überlegung). Auch die Rochade ist nicht sofort zu erwarten, sie spart allerdings ein Tempo.
Und zusammenfassend hatten wir im Preisbericht geschrieben: „Die Aufgabe glänzt mit verschleiernden Effekten, die denen der oft gezeigten Pronkin-Thematik in nichts nachstehen. Hier wie dort werden scheinbare Originalsteine als Täuschung entlarvt und überraschenderweise durch ihresgleichen ersetzt …“ Eine schöne Aufgabe etwas abseits des heutigen Main Streams, wie ich finde.
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