Vor ein par Tagen bin ich im Internet, konkret bei facebook in der Gruppe „Chess Endgames and Compositions“ über eine Beweispartie gestolpert, die sich, wie ich meine, hervorragend für unsere Serie eignet: Da kann ich gleichzeitig noch eine Frage „jenseits der eigentlichen Aufgabe“ mit euch diskutieren.
Die Schwalbe 2016, 4. ehrende Erwähnung
Beweispartie in 22,0 Zügen (14+14)
Beginnen wir mit der Analyse der Schlagfälle: Bei Schwaz fehlen [Lc8], der zuhause geschlagen werden musste, sowie [Bh7], der auf der h-Linie sterben musste. Bei Weiß fehlt {Be2], der selbst nicht schlagen konnte, sowie [Dd1], die auf b6 oder b5 vom schwarzen a-Bauern geschlagen wurde.
Das hilft nur bedingt weiter, drum betrachten wir die sichtbaren Züge: Bei Weiß haben wir 3+2+3+3+2+4=17 – erschreckend wenig, gerade weil wir wissen, dass sich kein Bauer umgewandelt haben kann: fünf Züge sind noch frei. Das Zählen bei Schwarz ist aber zunächst noch frustrierender: 4+1+0+1+0+3=9 !!
Gibt es vielleicht Kollisionen, die uns weiterhelfen können? Da stellt sich zunächst die Frage, wie denn Lc8 verschwinden konnte: Zunächst sehen wir, dass [Dd1] auf c8 hat schlagen können, sogar ohne dass die schwarzen Springer ziehen müssen, z.B. Dd1-b3-b4-f8-xc8-f8-c5-b5, um sich dort schlagen zu lassen. Sieben Züge, davon zwei bereits gezählte: Passt exakt!
Wirklich? Dann kann aber Ta6 nicht in einem Zug dorthin gekommen sein! Und damit brauchten wir mehr Züge, als uns zur Verfügung stehen – also kann die Dame nicht auf c8 geschlagen haben. Also ein Springer? Nein, auch der kann nicht so schnell wieder im Süden sein, wie das erforderlich wäre.
Also bleibt nur ein Turm. Bisher haben wir drei Turmzüge gezählt, wir haben also für beide Türme acht Züge Zeit – und das kann klappen: Th1-h3-a3-a8-xc8-a8-a6 sowie Ta1-a3-f3; natürlich muss Ta3-a8 erfolgen, bevor a2-a4 gezogen wird. Das aber verlangt, dass [Ta8] und [Sb8] Platz machen, um dann ihre Startfelder wieder zu besetzen. Beim Springer erscheint das nicht so schwierig, beim Turm aber ist das knifflig?!
Das wollt ihr nun vielleicht selbst eruieren, wie das funktionieren kann?
Hättet ihr damit gerechnet?? Da ist die Idee der Lösung wirklich gut verborgen, wie ich finde: Spannendes und kompliziertes Spiel – eine tolle Beweispartie!
Und warum ist sie bei der Qualität relativ niedrig ausgezeichnet worden? Nun, es gibt einen „Vorläufer“ mit der gleichen Idee wie hier, auch von Michel, schon 15 Jahre früher: P1080580. Wenn ihr euch das Stück anschaut, seht ihr gleich im Diagramm den „Makel“: da steht noch ein weißer Turm – gar ein Umwandlungsturm – auf der achten Reihe. Ich bin ja normalerweise sehr tolerant gegen Umwandlungssteine auch in Beweispartien, hier aber stört er auch mich sehr stark.
Das hat den Preisrichter bewogen, dieses Stück nicht in die Preisränge einzusortieren – das hat aber die Richter fürs Album nicht davon abgehalten, das Stück mit neun Punkten (ein Richter gab gar 3,5) ins FIDE-Album 2016-2018 als H51 zu wählen.
Ich finde beide Bewertungen konsequent und für mich stimmig: Die Originalität dieser Aufgabe ist durch das Stück von 2001 schon nicht unerheblich beeinträchtigt, sodass „kein Preis“ konsequent ist. Gleichzeitig soll das Album die Sammlung der besten Aufgaben einer Periode dokumentieren – und da sind wir uns sicher einig: Das ist schon ein „starkes Stück“!
Wie seht ihr das?
“Es gab und gibt keine schöpferische Leistung auf welchem Gebiet auch immer, die vom Himmel fiele. Ausnahmslos jede, auch die “originellste”, stützt sich auf eine lange Ahnenreihe, ich mag sie zurückverfolgen können oder nicht. Glaubt ein Richter, es dem Originalitätsprinzip schuldig zu sein, daß er nur den “Fortschritt” der (vorläufig) letzten Entwicklungsstufe gegenüber der vorletzten in die Waagschale werfe, so müßte er gerechterweise bei jeder der ihm vorliegenden Bewerbungen so verfahren. Aber kann das jemand?” (Herbert Grasemann, Die Schwalbe 73, 1982)
A very delightful proof game.
Interessante Frage von Thomas und auch interessante Meinungsäußerung. Aus meiner Sicht sollte die FIDE-Album-Bewertung jene aus den Magazinen widerspiegeln. Wenn sie also aus objektiven Gründen keine Auszeichnung bekommen hat, sollte sie auch nicht ins FIDE-Album und umgekehrt. Das kann man auch anders sehen, z.B. anhand der Frage, schaut man eher auf den thematischen Fortschritt oder auf das Gesamtwerk. Insofern sind unterschiedliche Entscheidungen durchaus möglich.
Sowohl in dieser Aufgabe als auch im Vorläufer gibt es einen Platzwechsel der schwarzen Türme und der schwarze Springer. Thematisch ist also das Identische dargestellt. Das ist aber bei Zweizügern (vermutlich auch in anderen Gattungen) noch viel häufiger der Fall. Die Bewegungen der Springer sind gleich und die der Türme sehr ähnlich (mit dem Unterschied 0-0). Insofern ist auch das Schema gleich – wieder ähnlich zum Zweizüger. Was könnte es also rechtfertigen, das Stück auszuzeichnen? Bei den Zweizügern ist es ein zusätzlicher Mattwechsel, einheitliche(re) Begründungen bei bestimmten Zügen, ein weißer Stein macht alle Erstzüge… Bei dieser Beweispartie scheinen mir die Begründungen der Figurenbewegungen interessant zur Analyse. Die Bahnung des Ta8 für den danach auf a8 erwandelten Turm im Vergleichsstück ist eine Routinetechnik für den Platzwechsel der Türme und durch das Vorhandensein des Te8 auch noch ziemlich offensichtlich. In der Aufgabe oben kann der Ta8 nicht zurück, weil der weiße Turm auf c8 schlagen muss (nicht ganz offensichtlich, wie die Analyse von Thomas zeigt) und dann die Tür nicht mehr öffnet, sondern am Ausgang a6 stehen bleibt. Das ist aus meiner Sicht schon sehr viel tiefer versteckt. Und bei den Springern gibt es auch Unterschiede. Der Schlag eines weißen Bauern auf der zweiten Reihe ist bei beiden vorhanden und Standard, aber warum kann der Springer nicht zurück und der andere vollführt einen Switchback? In der Vorgängeraufgabe wird geschickt der weiße König geführt, so dass der ursprüngliche Sg8 den Rückweg über e4 nicht gehen kann. In der Aufgabe oben ist es der Schachschutz Df6-Sf5-Kf3. Das ist auch aus der Diagrammstellung nicht einfach ersichtlich, da der weiße König inzwischen auf g3 steht. Schwarz muss aber für die Rochade und anschließendes Tf8-a8 alle anderen Steine von der Grundreihe wegspielen. Aus Platzgründen (Sg8 muss ausweichen, da Th6, Df6 und Le7) geht es nur so. Ich finde, das ist ein deutlicher Unterschied in der Begründung und meine, diese hier mit Schachschutz komplexer. Für mich ist das Vergleichbar mit Block oder Linienöffnung. Block scheint mir einfacher. Wird in einem Zweizüger ein identischer Buchstabenkomplex mit gleicher/ähnlicher Matrix und einmal Thema BII und einmal Thema B dargestellt, so erscheint mit letztere deutlich komplexer und unbedingt ebenso (sogar höher) auszeichnungswürdig wie die erste. Aus ähnlichen Argumenten halte ich die Aufgabe beim Informalturnier für massiv unterbewertet – vor allem im Vergleich zum 1. Preis, der es nicht ins FIDE-Album geschafft hat (2. Preis 8,5 Punkte; 3. Preis 8,5; 4. Preis nicht; 5. Preis 9,0; 6. Preis nicht, die anderen ehrenden Erwähnungen nicht) und auch die 1x 2,5 Punkte im FIDE-Album für zu niedrig.
Tolle Aufgabe!
Es gibt eben verschiedene Qualitätskriterien und mir ist nicht 100% klar, wie die korrekt zu gewichten sind. Eines ist die Innovationshöhe, also wie sehr bringt die Aufgabe Neues/Originelles, wie weit kann sich die Aufgabe von Vergleichbarem absetzen. Dann kommt noch die absolute Qualität der Aufgabe. Bei Letztformen ist häufig die Innovationshöhe gering, dafür ist vielleicht absolut gesehen die beste Fassung erreicht. Bei neuen Ideen hingegen ist es häufig umgekehrt. Vermutlich ist die korrekte Gewichtung dieser (und anderer) Faktoren zu einem gewissen Grad Geschmackssache.
PS: die Aufgabe ist im Album C?, weil Natch/Euclide das scheinbar nicht können (?). Stelvio sagt C+ in 5sec…
Man vergleiche dazu auch meine Diskussion dieser Probleme in “The Problemist” vom März 2020, Seite 325. Das von Dir, Thomas, angesprochene Thema “Preisbericht vs. FIDE-Album” finde ich spannend: Vielleicht muß man anerkennen, daß dabei unterschiedliche Bewertungskriterien angewandt werden müssen!?