Retro der Woche 31/2024

Noch einmal möchte ich auf das Israel-Ring-Turnier für Beweispartien der Jahrgänge 2022 und 2023 zurückkommen, den ihr im Heft 92 (April 2024) von Variantim im Internet komplett anschauen könnt.

Vielleicht ahnt ihr schon beim Blick auf das Diagramm, dass ich damit eine Aufgabe, die eines meiner Lieblingsthemen zeigt, ausgesucht habe? Ansonsten lasst euch überraschen!

Michel Caillaud
Variantim 2022-2023, 1. ehrende Erwähnung im IRT
Beweispartie in 23,5 Zügen (14+14)

 

Allzu viele Züge können wir im Diagramm für beide Parteien nicht identifizieren — und unser üblicher Verdacht, dass dann irgendetwas mit Umwandlungen passieren wird, widerlegt sich hier sehr schnell, wenn man nur die Bauern auf dem Brett zählt: Sowohl Weiß als auch Schwarz haben jeweils ihre „Achterbande“ noch komplett an Bord.

Auffällig sind vielleicht noch die offensichtlichen Rochadestellungen – und bei etwas genauerem Hinsehen stellen wir fest, dass wir die Schlagfälle schon recht gut bestimmen können.

Bei Weiß fehlen ein Turm und der schwarzfeldrige Läufer, und damit ist klar: der Turm hat sich auf c6, der Läufer auf d6 geopfert. Bei Schwarz fehlen ebenfalls ein Turm und der weißfeldrige Läufer. Dass beide auf f3 bzw. g4 gestorben sind, ist offensichtlich – nur ist noch nicht klar, wer wo starb.

Die Reihenfolge der Schläge können wir allerdings mit etwas genauem Hinsehen herausbekommen – und das klärt dann natürlich auch die Frage nach den Schlagopfern auf f3 bzw. g4.

Offenbar muss sich zunächst [Lc1] opfern – er ist das einzige Schlagopfer, das ohne Unterstützung der anderen Partei freigespielt werden kann. Also Lc1>d6, exd6; T>f3, exf3; T>c6, bxc6; L>g4, fxg4.

Klar sind natürlich die Läufer, aber bei den Türmen stellt sich die Frage, wie es denn möglich sein könne, dass die Türme herausgespielt werden können, ohne die kurze weiße bzw. die lange schwarze Rochade zu stören?

Und nun kommen wir zum Thema der Aufgabe: Ohne zu viel zu verraten, sei nur gesagt, dass das nicht so trivial ist. Das aber wollt ihr sicherlich selbst herausbekommen? Das solltet ihr euch auch nicht nehmen lassen!

Lösung


Wie man eigentlich erwarten kann, ist alles ganz anders, total anders, als es im Diagramm ausschaut! Zunächst mus es in die „falsche“ Richtung gehen, um die richtigen Türme rechtzeitig opfern zu können. Wenn das nicht paradox ist, weiß ich es nicht – und wenn jemand ein Beispiel für „Antizielelemente“ in Beweispartien sucht, wird hier reichlich fündig! So auch noch bei den jeweils zweiten Te1 / Te8 Zügen.

Ich hoffe, das Stück hat euch genau so viel Spaß gemacht wie mir?

6 thoughts on “Retro der Woche 31/2024

  1. I remember the first problem with this idea that unfortunately turned out to be cooked: https://www.thbrand.de/2019/03/03/retro-der-woche-102019/

    The Die Schwalbe version (Dupont & Kolcak) is the correction and the first sound PG showing this double castling & pseudo-castling idea. As such, it deserved to be in the FIDE album. I have no doubt about that.

    Michel’s version is slightly different than the predecessor and very nicely done. The question is if it is original enough to receive the same praise as the first of its kind, in light of the existence of the Dupont/Kolcak problem. I guess we will find out in a few years, when the FIDE album 2022-2024 is published.

    • Ich bin völlig anderer Meinung als Kostas. Die Inhaltsbeschreibung (falsche Rochaden und dann künstlich zur anderen Seite) ist gleich. Michels Fassung ist meiner Meinung nach aber nicht “slightly different than the predecessor”, sondern basiert auf einer ganz anderen Matrix mit anderen Begründungen und ist daher auch hochoriginell.
      Auf Zweizüger oder Hilfsmatts übertragen scheinen mir bei einer solchen Argumentation kaum mehr Auszeichnungen mehr möglich.

      • I accept Silvio’s point that my choice of words was poor and a bit of a stretch. What I meant to express was that unless the pioneering problem that shows a difficult theme is poorly done, the problems that repeat the same achievement do not bring the same level of excitement as the first one. For sure, there are other qualities to appreciate in a problem besides achieving a certain theme for the first time. Proof games have not reached the same level of saturation as orthodox #2 and helpmates. But it has become increasingly harder for modern composers of all genres to impress and excite.

  2. Geht mir ähnlich wie Silvio, verstehe die viel zu tiefe Bewertung auch nicht. Vermutlich ist es wieder mal ein Fall von “sieht doch gar nicht so schwierig aus”. Wäre die BP wilder und die Schwierigkeiten entsprechend offensichtlicher, wäre sie evtl höher eingestuft worden…

  3. Diese Aufgabe konnte ich selbst lösen. Das vermehrte die Freude sicher noch. Als ich die Aufgabe beim Sachsentreffen 2023 im Rahmen eines Vortrags vorstellte, gab es einige staunende Gesichter. Der Inhalt ist derart paradox und schwer darzustellen, dass es mir ein Rätsel ist, warum diese Aufgabe keinen Preis bekommen hat. Es gibt einen Ideenvorläufer (https://dieschwalbe.de/download/preisberichte/WEB_TK_PB_Retro_2019_309.pdf, S. 245, 1. Lob), der aus meiner Sicht ebenfalls total unterbewertet ist, es aber immerhin ins FIDE-Album geschafft hat. Einen kurze Inhaltsbeschreibung zu Caillauds Aufgabe ist im Preisbericht zu lesen, einen Grund für die Einstufung konnte ich jedoch nicht ausmachen (“Elementary fake castling for both sides can be achieved in just 9.5 moves, as shown by Andrew Buchanan (see P1285213). Here, the fake castling positions arise after real castlings in the opposite direction.”). Für mich vor allem wegen der Klarheit der Darstellung und der Zugänglichkeit der Lösung (Reihenfolge der Schlagzüge und daraus folgender Zugnot, die die falschen Rochaden motiviert) eine fantastische Beweispartie. Ich würde fürs Album 4 Punkte geben.

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