Auch wenn ich erst vor drei Wochen hier ein Auflöse-Retro von Luigi Ceriani (23.1.1894–8.10.1969) vorgestellt habe, so ist er hier im Blog bezogen auf die Qualität seiner Aufgaben und seiner Bedeutung für die Entwicklung der Retroanalyse im mittleren Drittel des 20. Jahrhunderts stark unterrepräsentiert. Daher will ich heute und in der kommenden Zeit noch einige „Cerianis“ vorstellen.
Ja, manche seiner Stücke sind hochkomplex und würden den üblichen Raum- und Zeitrahmen dieses Blogs sprengen, aber natürlich gibt es auch leichter zu verstehende und einfacher zu lösende Stücke von ihm – die sich trotzdem nicht unbedingt für eine Drei-Minuten-Löse-Pause eignen würden.
Ich hoffe, dass euch das Stück, das ich für heute ausgesucht habe, euch ebenso wie mir gut gefällt – und es auch ein wenig die „Angst, einen Ceriani zu lösen“ nimmt!
32 personaggi e 1 autore 1955
Wer ist am Zug? (11+11)
Das heutige Stück entstammt einem seiner beiden im Selbstverlag veröffentlichten Bücher: Das Monumentalwerk „32 personaggi e 1 autore“ aus dem Jahre 1955 sowie die Fortsetzung (auch mit vielen Korrekturen und Ergänzungen zu den „32 personaggi“) aus dem Jahr 1961 „La Genesi delle Posizioni“. Beide Bände sind in blauem Leinen gebunden und überraschen optisch beim ersten Blick hinein durch den deutlich sichtbaren Schreibmaschinensatz und die ins Manuskript eingestempelten Diagramme. Der Text ist in italienischer Sprache verfasst: Stimmt, hier ist vielleicht derjenige im Vorteil, der in seiner Schulzeit Lateinunterricht genossen hat, aber „zur Not“ helfen auch ein Scanner (etwa im Smartphone) und Übersetzungsprogramm.
Aber worum geht es im heutigen Stück? Allein die gestellte Frage zu beantworten – dafür hat man ja schon den „50:50 Joker“ – ist natürlich zu wenig; mit dieser simplen Forderung will Ceriani selbstverständlich nicht ein „Weiß“ oder „Schwarz“ haben, sondern der folgende, mit „weil“ eingeleitete Teil, ist viel wichtiger!
Beginnen wir wie üblich mit der Schlagbilanz: wBg4 und f3 kommen von e2 und f2, wBg6 von d2, und damit sind alle fünf fehlenden schwarzen Steine erklärt. Bei Schwarz kommt sBe6 offenbar von d7 und einer der beiden Bauern auf der f-Linie von h7, was drei Schläge erklärt – zusätzlich muss Schwarz noch [Bb2] und [Bc2] auf deren Linien geschlagen haben.
Beide Seiten können noch keinen Bauernzug zurücknehmen, da das entweder zu illegalem Retroschach oder zur Aussperrung des eigenen weißfeldrigen Läufers führen würde.
Wie schaut nun die Auflösungs-Strategie aus? Im Moment können, vom möglichen Tempozug c7-c6 abgesehen, nur wLh7 und sTf6 ziehen, wobei der Turm zunächst ein „Pendler“ bleiben muss.
Um weiter zu kommen, muss irgendwann etwas entschlagen werden, sodass der Käfig im Osten des Bretts geöffnet werden kann. Das kann nur mittels e2xXf3 und f3xYg4 erfolgen.
Das aber ist gar nicht schwer, denn dazu muss „nur“ vorher wLh7 nach f1 zurückgespielt werden.
Wer aber ist am Zug, welche Partei hat also zuletzt gezogen? So viele letzte mögliche Züge haben wir ja gar nicht, und bei allen bis auf einen ergeben sich schwarz-weiße „Feld-Blockaden“. die wollt ihr nun sicherlich selbst finden und dann auch die folgenden, nicht so schweren (und nicht ganz eindeutigen) Züge zur Öffnung des Käfigs entdecken?
Muss ein Stein im Rahmen der Stellungsauflösung ein Feld betreten, kann dies aber nicht, da es von einem gegnerischen Stein besetzt ist. Spricht man von „Retro-Opposition“ Die liegt hier in den beiden Fehlversuchen einmal nach 1.–Tf7-f6 (Weiß ist an 2.Lf7-g8 gehindert), einmal nach 2.Lf7-g8 (Schwarz hat keine legale Zugrücknahme) vor. Im ersten Fall kann Weiß noch (nutzlos!) pendeln, im zweiten ist die Stellung illegal.
Ein sehr einfaches, aber wie ich finde prägnantes und instruktives Beispiel für verschiedene Fälle der Retro-Opposition.
Nice to have a simple example of retro opposition.