Um den Jahreswechsel 1923/1924 herum gab es zwei unabhängige, aber dennoch eng zusammenhängende Retro-Erfindungen, die heute beide unter dem Namen „Verteidigungsrückzüger“ bekannt sind. Erstmals hat damit die Retroanalyse das reine Hilfsspiel verlassen und Verteidigungsideen einbezogen. Wolfgang Dittmann beschrieb dies in seinem „Der Blick zurück“ (S. 55) so:
„Niels Høeg und Zeno Proca kamen unabhängig voneinander auf die Idee, dass das Element der Strategie, das schon dem synthetischen Hilfsrückzüger eigen war, durch ein Gegenspiel von Schwarz noch außerordentlich verstärkt werden könnte. Die geforderten Zugrücknahmen beider Seiten sollten nun gegen den Willen von Schwarz (!) zu einer Stellung führen, in der Weiß ein Vorwärtsziel (meist Matt in 1 Zug) erreichen kann. Das war sehr ungewohnt; das gewaltige strategische Potential, das der Verteidigungsrückzüger für die Welt der Retroanalyse bereitstellte, ist wiederum erst viel später erkannt und schrittweise ausgeschöpft worden … Die nach den Erfindern benannten beiden Typen des Verteidigungsrückzügers, die ansonsten übereinstimmen, unterscheiden sich nur in Bezug auf die Seite, die bei einer Zug-Rücknahme Faktum und Art eines Entschlages bestimmt; beim Typ Høeg entscheidet dies der Gegner, beim Typ Proca derjenige, der den Zug zurücknimmt.“
Ein frühes Stück von Thomas Rayner Dawson, der dem Høeg-Typ wegen dessen vielfältigen Möglichkeiten zur Variantenbildung besonders zugetan war, möchte ich euch heute vorstellen.
The Chess Amateur 1924, Niels Høeg gewidmet
#1 vor 2 Zügen, VRZ Høeg (11+12)
Bei der Lösungsangabe habe ich mich eng an der englisch-sprachigen von Henrik Juel in der PDB orientiert.
Die schwarzen Bauern haben alle fünf fehlenden weißen Figuren geschlagen, bei Schwarz fehlen TLLS, von denen drei von weißen Bauern (axb, fxe, h5xg6) und der verbleibende von einem weißen Offizier geschlagen wurden.
Die möglichen Matts sind 1.Lg7# (dazu muss g7 gedeckt sein) und 1.Sf7# (dazu muss g6 gedeckt sein).
Wenn Weiß sofort zurückzieht, um g7 oder g6 zu decken, kann Schwarz sich durch kluges Ergänzen verteidigen (ich verwende als „Schlag- und Einsetz-Symbol“ das „Delta-Symbol“ ∆; die Verwendung der Frage- und Ausrufezeichen dürfte klar sein?):
R 1.f6?∆Te7!, R 1.f5?∆Le6!, 1.Kf8?∆Se8!
Weiß beginnt also derart, dass er Schwarz zwingt, sich bei einem möglichen Schlag festzulegen, indem er Turm, Läufer oder Springer ergänzt, deren Fehlen als mögliche Entschlagobjekte dann von Weiß ausgenutzt wird.
Es gibt auch einen anderen Versuch: R 1.a3?∆Lb4! bel. 2.f5∆Le6!, wo Schwarz erfolgreich ist, weil er es sich leisten kann, seinen schwarzfeldrigen Läufer zu „verlieren“.
Den „weißen Teil“ des Schlüsselzuges haben wir nun „fast“ schon gesehen, und so sollte es euch nicht mehr schwerfallen, die komplette Lösung herauszubekommen?
In der dritten Variante oben ist die Angabe 2.Kf8-e8 vielleicht etwas irreführend, da es auch 2.Kf8∆Le8 sein könnte; aber das ist natürlich kein Dual: Weiß zieht ja nicht im üblichen Retro-Sinne vollständig zurück, er zieht nur seinen König zurück nach f8 und überlässt es Schwarz, den Rückzug zu vollenden, indem er wählt, was (wenn überhaupt) auf e8 ergänzt werden soll; Schwarz würde gerne D, T oder S ergänzen (um 1.Lg7# zu verhindern), aber alle drei Möglichkeiten sind illegal: Bei den acht schwarzen Bauern fehlen D und S nicht, und R: Kf8∆Te8+ würde zu viele schwarze Schläge erfordern.
In seinem Buch „Caissa’s Wild Roses“ — dort ist das Stück die Nr. 106 — schrieb Dawson 1935: „… my best example of variations in addition, one of the loveliest features of this Fairy type.“
Für mich ein frühes überzeugendes Beispiel für die Variantenmöglichkeiten im Høeg-VRZ.
It is interesting that the two types of defensive retractors were invented almost simultaneously some 100 years ago. Initially the Høeg type attracted most interest by other composers; but more recently the Proca type has proved to be the more fruitful one.
Thank you, Thomas, for another year of your fine blog.