Retro der Woche 43/2024

„Orthorekonstruktionen“ (Definition nach kunstschach in begriffen: “Es ist eine Zugfolge zu finden, in der beide Seiten kooperieren, und die zur Diagrammstellung führt mit dem Unterschied, dass nun die andere Partei am Zuge ist.”) tummeln sich in einer Grauzone zwischen Retroanalyse, wirft man einen Blick auf die Stellungen, Schachmathematik und Konstruktion – in der Schwalbe laufen diese Aufgaben meist unter „Sonstiges“. Ein besonders spannendes (und auch schwer zu lösendes) Stück habe ich für heute herausgesucht. Bei der Besprechung mache ich es mir heute recht einfach, ich übernehme fast unverändert den Kommentar aus dem Preisbericht von Hans Gruber (264 Die Schwalbe XII/2013); besser könnte ich das Stück auch nicht präsentieren!

Nikolai Beluchow
Die Schwalbe 2012, 1. Preis
Entferne zwei schwarze Figuren (keine Bauern) für eine Ortho-Rekonstruktion mit Schwarz am Zug (14+15)

 

Alle (8 über 2) = 28 paarweisen Entfernungen schwarzer Offiziere (ohne den sK) führen zu legalen Stellungen. Davon erfordern zehn einen Schlag in einem der nächsten beiden Einzelzüge. Alle anderen 18 sind funktionierende Verschiebebahnhöfe mit viel Freiraum.
Nach Entfernen der zwei schwarzen Offiziere befinden sich zehn Objekte (zwei leere Felder, ein weißer Springer und sieben schwarze Offiziere) in dem Käfig c8, d8, e8, f8, g8, c7, e7, g7, h7, h6.
Für eine Orthorekonstruktion ist eine ungeradzahlige Permutation notwendig (jeder Einzelzug transponiert ein leeres Feld und einen Stein, also zwei Einheiten), sodass sich Diagramm- und Schlussstellung nicht unterscheiden. Dafür muss ein Paar ununterscheidbarer Objekte vertauscht werden.
Hierfür kommen nicht die schwarzen Springer infrage, da keiner das Standfeld des jeweils anderen erreichen kann.
Die schwarzfeldrigen schwarzen Läufer können es auch nicht sein, da es entlang des Korridors c7-d8-e7-f8-g7-h6 kein Aneinandervorbei gibt.
Die schwarzen Türme können ihre Plätze tauschen, wenn einer auf e7 wartet, während der andere von d8 via e8 nach f8 (oder umgekehrt) zieht. Ein sTe7 erfordert die Oszillation des weißen Springers auf g8-h6, was eines der freien Felder bindet. Für die Durchführung des Turmmanövers muss das andere freie Feld von d8 nach f8 transponiert werden, während die beiden schwarzen Türme auf e7 und e8 eine Mauer bilden. Das geht nicht!

Jetzt ist guter Rat teuer … !

Es gibt einen Ausweg: Die leeren Felder müssen die zu vertauschenden Objekte sein! Das ist (schachlich) völlig kontraintuitiv und daher sensationell. Die mathematische Perspektive ermöglicht erst den schachlichen Durchbruch!
Sei das leere Feld, das beim ersten Zug des weißen Springers gewechselt wird, das Feld X, das andere leere Feld das Feld Y. Während der weiße Springer zwischen einem bestimmten Felderpaar oszilliert, belegt er eines der beiden leeren Felder permanent, so dass die schwarzen Steine nur das andere leere Feld zur Verfügung haben. Wann immer der weiße Springer seine Oszillationsfelder wechselt (er hat dafür die Felderpaare c8-e7, e7-g8 und g8-h6 zur Verfügung), wechselt er auch das betroffene leere Feld, da kein schwarzer Stein dabei helfen kann: Die Transposition von e7 und h6 mit Hilfe eines schwarzen Steines geht prinzipiell nicht, die von c8 und g8 geht innerhalb des vorgegebenen Käfigs nicht. Also hat es der weiße Springer mit Y zu tun, wenn er zwischen e7 und g8 oszilliert, anderenfalls mit X. Der letzte Zug des weißen Springers in der Lösung verlässt daher X auf e7. Falls der letzte schwarze Zug das Gegenteil seines ersten Zuges oder überhaupt nicht auf e7 bezogen ist, bliebe X in seiner originalen Position und nichts hätte sich geändert. Damit Schwarz zwischen dem ersten und dem letzten Zug von und nach e7 unterscheiden kann, müssen wir dort einen Stein belassen (den schwarzfeldrigen schwarzen Läufer) und den sLd8 sowie den sSf8 entfernen! Dann sind die Zielfelder des schwarzen Läufers einmal d8 und einmal f8, also zwei unterschiedliche Felder!
Die Orthorekonstruktion selbst erfordert die Durchführung des folgenden Manövers (es kann auch in genau umgekehrter Reihenfolge erfolgen): Der schwarzfeldrige schwarze Läufer zieht von e7 nach d8; der weiße Springer verlagert seine Oszillationsfelder schrittweise von c8-e7 hin zu g8-h6, um Schwarz das Betreten von e7 zu ermöglichen; der schwarzfeldrige schwarze Läufer wird im Käfig auf die rechte Seite von e7 verlagert; der weiße Springer verlagert seine Oszillationsfelder schrittweise wieder zurück von g8-h6 hin zu c8-e7; der schwarzfeldrige schwarze Läufer zieht von f8 nach e7.
Das dauert mindestens 40.5 Züge. Es gibt nur vier Zugfolgen dieser Länge (in den Zügen 6-8 ist ein Detailtausch möglich, und das Manöver kann vorwärts oder rückwärts gespielt werden).

Lösung

1… Ld8 2.Se7 Tf8 3.Sc8 Se8 4.Se7 Dg7 5.Sc8 Lg8 6.Se7 Kh7 7.Sc8 Dh6 8.Se7 Kg7 9.Sc8 Lh7 10.Se7 Tc8 11.Sg8 Sc7 12.Se7 Te8 13.Sg8 Kf8 14.Se7 Dg7 15.Sg8 Le7 16.Sh6 Td8 17.Sg8 Ke8 18.Sh6 Lf8 19.Sg8 Dh6 20.Se7 Lg7 21.Sg8 Kf8 22.Se7 Se8 23.Sg8 Tc7 24.Se7 Lg8 25.Sc8 Dh7 26.Se7 Lh6 27.Sc8 Dg7 28.Se7 Lh7 29.Sc8 Dg8 30.Se7 Kg7 31.Sc8 Df8 32.Se7 Lg8 33.Sc8 Kh7 34.Se7 Lg7 35.Sc8 Kh6 36.Se7 Lh7 37.Sc8 Dg8 38.Se7 Lf8 39.Sc8 Sg7 40.Se7 Te8 41.Sc8 Le7 *

Noch einmal Hans Gruber: „Der klare Turniergewinner in einem starken Turnier! Eine perfekte Kombination schachlichen und mathematischen Gehalts. Dass zwei leere Felder ‚platzwechseln‘ müssen, ist schlau ersonnen! Ich hatte früher immer wieder beim Lösen solcher Probleme einen Verdacht: Irgendwie ist das doch alles anders machbar, wenn man verschiedene Felder nimmt. Aber das war nur naiv vermutet, wohingegen es der Autor glasklar mit ‚Vertauschung zweier ununterscheidbarer Elemente‘ ausdrückt, was sowohl Offiziere als auch Felder sein können! Das Set an Verführungen ist toll, weil man immer bessere Karten auf den Tisch legen muss: Es klappt prinzipiell nicht mit Springern, korridormäßig nicht mit Läufern, kompliziert nicht mit Türmen, und dann kompliziert mit Feldern!“

Wer sich mehr mit dieser interessanten Thematik beschäftigen möchte, der werfe einen Blick in Die Schwalbe Heft 265 (Februar 2014). Und wenn ihr gerade dort seid, schaut auch noch einmal auf den „Aufmacher-Artikel“ dieses Heftes!

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