Vor einiger Zeit schon hatte ich mich bereit erklärt, als einer der fünf Richter der Retroabteilung des 12. WCCI (World Championship in Composing for Individuals) für die Jahre 2022 bis 2024 zu fungieren. Vor einigen Tagen erhielt ich die 126 (!) Aufgaben von 28 Teilnehmern, die ich nun in den kommenden Wochen „à la FIDE-Album“ bewerten muss.
Das Gute daran ist natürlich, dass ich dabei auch einige Aufgaben entdecke, die ich euch hier vorführen kann – und damit will ich gleich heute beginnen.
Champagne-Turnier Batumi 2023, 2. Preis
Hilfsmatt in 2 Zügen, (11+15)
Wenn solch eine Aufgabe in einem Retro-Turnier auftaucht, ist es vielleicht ganz sinnvoll, anstatt sogleich mit Löseversuchen zu beginnen, die Stellung genauer zu betrachten. Beginnen wir also mit den Schlagfällen.
Schwarz fehlt nur ein Bauer, Weiß hat den fehlenden schwarzen Stein mittels axb geschlagen – das Schlagopfer kann kein Bauer gewesen sein. Also muss sich der fehlende Bauer umgewandelt haben.
Bei Weiß fehlt von jeder Steinart jeweils ein Vertreter, wir sehen aber nur zwei schwarze Doppelbauern im Diagramm. Nehmen wir einfach an, deren Schläge seien cxd und exf gewesen. Macht euch bitte am Ende unserer Überlegungen klar, dass die genauso bleiben, wenn gxf geschehen sein sollte. Also sind noch drei Schläge frei?
Nicht wirklich, denn der weiße Bauer auf f7 kommt ja schlagfrei von f2: ihm steht ja kein Schlagopfer zur Verfügung. Also müssen beide schwarzen Bauern auf der f-Linie dorthin geschlagen haben – und das bedingt, wenn einer der Bauern von der e-Linie kommt, der andere von der g-Linie. Und damit steht auf g3 der [Bf7]! Damit haben wir schon vier schwarze Bauernschläge. Und der fünfte? Das muss dann hxg gewesen sein; der h-Bauer hat sich also auf g1 umgewandelt. (Auch hier können [Bf7] und [Bh7] ihre Rollen getauscht haben, aber der Umwandlungsbauer muss noch [Bg2] geschlagen haben.
Und warum kann der nicht einfach auf f1 umgewandelt haben, um [Bg2] anderweitig zu schlagen? Richtig, dem steht der [Bf2] entgegen!
Was können dann die letzten Züge des Weißen – beim Hilfsmatt zieht ja Schwarz an – gewesen sein? Ein Zug des wBb3 scheidet aus: Er könnte ja mangels Schlagopfer nur von b2 kommen, hätte damit aber den [Lc1] eingesperrt, der aber sicher nicht zu Hause geschlagen wurde.
Und nun wird es interessant: Der letzte weiße Zug erfolgte mit König oder Turm – oder der letzte Zug war c2-c4 oder e2-e4.
Wir können also nicht nachweisen, dass König oder Turm bereits gezogen haben – nach Konvention ist also die weiße Rochade erlaubt. In diesem Fall war aber c2-c4 oder e2-e4 der letzte weiße Zug. Welcher denn?
Dazu wollt ihr euch sicher selbst Gedanken machen?
Preisrichter Michel Caillaud schrieb in seinem Bericht, den ihr übrigens hier auf meiner Seite findet:
„An original structure with a clear logic (I found no similar realization) that doesn’t fit the usual ‘classifying boxes’, with a ‘secondary” Partial Retro Analysis (?!).
I appreciated the polished presentation with promotions unifying the en passant solutions.
Offizielles Thema war „Rochade“ in welcher form auch immer.