Heute möchte ich für die „Langversion“ des SchwalbeRetro-Preisberichts für das Jahr 2008 werben, der nun in einer Kurzfassung von auch noch fast acht Seiten im Februar-Heft 2015 der Schwalbe erschienen ist. Die Lang-Fassung könnt ihr hier im Blog herunterladen.
Hier zitiere ich also komplett den Kommentar des Preisrichters Nicolas Dupont zum ersten Preis in der Abteilung Klassische orthodoxe Retros.
Die Schwalbe 2008, 1. Preis, Abteilung II
Matt in 3 Zügen (13+12)
Dieses ganz ausgezeichnete Werk wartet mit einem äußerst originellen und tief angelegten Thema auf, das die sehr hohe Auszeichnung voll gerechtfertigt. Die Lösung ist eindeutig und gleichwohl „nicht festgelegt“ (ein Phänomen, welches sich aus dem Gebrauch der PRA-Konvention erklärt (partielle retrograde Analyse), d.h. jede Genesis der Stellung schließt eine von beiden Rochade-Optionen für Schwarz aus, und jede der beiden Lösungen schließt die andere aus!
Außer dem Lf8, der auf seinem Ausgangsfeld geschlagen wurde, sind drei schwarze Steine geschlagen worden, was die zwei weißen Doppelbauern erklärt. Damit verbleibt für Weiß nur noch die Möglichkeit eines einzigen, im Diagramm „unsichtbaren“ Schlagfalls. Was Schwarz betrifft, so schlagen drei Schlagfälle zu Buch, von denen einer den Doppelbauern e5 erklärt, und mindestens ein weiterer, um den Umwandlungsläufer a7 zu erklären. Damit verbleibt auch für Schwarz nur die Option eines einzigen, im Diagramm „unsichtbaren“ Schlagfalls.
Diese beiden Schlagfälle, einer je Farbe, müssen erfolgen, um die Anwesenheit eines Umwandlungsturms für jede Seite zu rechtfertigen. Wir erkennen, dass der weiße Bauer a2 keine schwarze Figur auf b7 schlagen kann, um dem schwarzen Bauern a7 die Umwandlung auf gerader Linie zu gestatten. Tatsächlich muss der schwarze Läufer auf a7 auftauchen, ehe a6xb7 gespielt werden kann. Somit führt die Situation, dass dieser Läufer das Originalfeld des schwarzen Bauern a7 besetzt, zu folgender Schlussfolgerung mit nur zwei sich gegenseitig ausschließenden Möglichkeiten, dieses Stellungsmerkmal zu erklären:
Die Originalbauern a7 und h2 wurden geschlagen, und die Originalbauern a2 und h7 haben sich schlagfrei in einen Turm ungewandelt;
Die Originalbauern a2 und h7 wurden geschlagen, und die Originalbauern a7 und h2 haben sich ebenfalls schlagfrei in einen Turm umgewandelt.
Wenn die Genesis der Stellung dem ersten Fall entspricht, dann verbleiben nur die große weiße und die kleine schwarze Rochade als partiemögliche Züge. Dann lautet der Schlüssel 1.Tf1!, was die kleine schwarze Rochade verhindert, und Schwarz kann 2.Dxc6 gefolgt von Matt nicht parieren…
Wenn die Genesis der Stellung dem zweiten Fall entspricht, verbleiben nur die kleine weiße und die große schwarze Rochade als Optionen. Dann lautet der Schlüssel 1.Td1!, was die große schwarze Rochade verhindert, und Schwarz kann 2.Dxg6 nebst Matt nicht parieren…
Wohlgemerkt, es funktionieren weder 1.0-0 noch 1.0-0-0. Tatsächlich legen diese Züge die Vergangenheit fest, indem sie Schwarz das Recht einräumen, entsprechend mit 1…, 0-0-0 oder 1…., 0-0 zu erwidern. Im Gegensatz dazu legen die Schlüsselzüge die Vergangenheit nicht fest, vielmehr werden sie „nach Maßgabe der Vergangenheit“ gespielt. Die Konvention für PRA erlaubt eine derartige Vorgehensweise. Für solche Leser, die mit dieser Konvention wenig vertraut sind, sei hier das einfachste Demonstrationsobjekt zitiert, das ich kenne:
Wie in Werners Aufgabe, jedoch in aller Offensichtlichkeit dargeboten, existieren hier zwei mögliche Vergangenheiten der Partie, die sich gegenseitig ausschließen, je nachdem, ob Schwarz zuletzt d7-d5 oder aber gerade f7-f5 gezogen hat. Im ersten Fall löst 1.c5xd6 e.p. f5-f4 2.d7#, und im anderen Fall löst 1.g5xf6 e.p. d5-d4 2.f7#. Der springende Punkt ist die Tatsache, dass die Lösung sehr wohl eindeutig, wenn auch nicht festgelegt erscheint.
The length of the long version must be a record; I have never seen anything like it.
As usual in Schwalbe awards: a lot of great retros.
Indeed, Henrik, if I had typeset the “long” award in standard Die Schwalbe layout, it had resulted in some 25 pages or so — I suppose too much for most problem friends…
In der Langfassung des Preisberichts fiel mir besonders ein Wort in dem Kommentar zu Michel Caillauds Problem 13822 auf (das ein Lob in der Beweispartie-Abteilung erhielt): “chantilly”! Die Übersetzer (ein Dank an Werner Keym und Günther Weeth!) haben das sehr prägnant als “Sahnehäubchen” übertragen. Dabei geht es um das “Ende der Beweispartie” (mal wieder!), und zwar um Züge nach dem eigentlichen thematischen Geschehen, die besser weggelassen worden wären. Insofern klingt “Sahnehäubchen” vielleicht fast schon zu positiv… Ein Alternativvorschlag: “Zuckerglasur”`?