Am letzten Donnerstag hatte ich kurz auf das (noch vorläufiige) Ergebnis der Retroabteilung des 4. FIDE World Cup hingewiesen: Wieder einmal hat Silvio Baier ein bedeutendes Retro-Turnier gewinnen können!
Die Sieger-Aufgabe möchte ich heute vorstellen, aber dabei einmal nicht so intensiv wie sonst meist den möglichen Weg zur Lösungsfindung erläutern, sondern mehr die Lösung als solche diskutieren.
Hier also nun das ausgezeichnete Meisterwerk:
4. FIDE World Cup 2015, 1. Platz
Beweispartie in 32.5 Zügen (14+14)
Man erkennt recht schnell, dass die fehlenden Bauern nicht direkt geschlagen worden sein können; da das ganze Offizierskorps noch vorhanden ist, müssen sich die jeweils zwei fehlenden Bauern umgewandelt haben.
So weit, so gut — und bei dem Autor nicht sonderlich überraschend: Wie können schon einmal ein „Proof Game of the Future“ vermuten, wo also zwei doppelt gesetzte Themen dargestellt werden.
Die Inventur lässt allerdings noch einige freie Züge zu, wenn wir die sichtbaren zählen: 1+0+6+2+2+3=14 bei Weiß, 2+0+5+2+2+4=15 bei Schwarz. Dann kann man noch vermuten, dass zumindest die Springer auf b1 und b8 gezogen haben müssen, um ihre westlichen Kameraden heraus zu lassen. Bei den benachbarten Läufern ist dies nicht so klar: sie können ja auch Umwandlungssteine sein, die die Original-Läuer ersetzen. Bei den Springern ist dies wegen der hohen erforderlichen Zügezahl deutlich unwahrscheinlicher.
Zumindest diese Vermutung bewahrheitet sich: Die Lc1 und c8 sind Pronkin-Läufer, also durch Umwandlung entstandener Ersatz für die Originalsteine.
Ansonsten enthält die Lösung, wie ich finde, eine Menge Überraschungen:
1.Sf3 d5 2.Tg1 Lh3 3.gxh3 d4 4.Tg6 d3 5.Ta6 g5 6.c4 g4 7.c5 g3 8.c6 g2 9.Da4 g1=L 10.Lg2 Lg7 11.Kf1 Lc3 12.Se1 Sf6 13.f4 Le3 14.dxe3 d2 15.e4 d1=L 16.Le3 Lb3 17.Lb6 cxb6 18.c7+ Sc6 19.c8=L Dc7 20.Le6 fxe6 21.Sa3 OOO 22.Td1 e5 23.Td4 Le6 24.Dd1 Sb8 25.Tda4 Td3 26.f5 Sd5 27.f6 Dd8 28.f7 Kc7 29.f8=L Lc8 30.Lh6 Tf8+ 31.Lf3 Tf5 32.Lc1 h6 33.Sb1.
Preisrichter Michel Caillaud hat besonders die viersehr einheitlichen Läuferumwandlungen, aufgeteilt in Pronkin und Ceriani-Frolkin bei Schwarz und Weiß gelobt und darüber hinaus die Rückkehren erwähnt.
Was mich persönlich am meisten in dieser Lösung überrascht hat sind nicht die Rückkehren der Springer, sondern die der Damen, die auf mich einen besonders intensiven Eindruck gemacht haben. Bei Schwarz spart die überraschende Rochade zusammen mit der Damen-Rückkehr einen Zug, und bei Weiß ist die Bahnung für den auf d1 umzuwandlenden Läufer sehr überzeugend — vor allen Dingen, da Da4 darüber hinaus das weiße Spiel stark determiniert, einschließlich der raffinierten Ablösung Bc6-c7+ Sc6, c8=L. Allein das zeigt diee große Klasse des Autors.
Einen anderen Aspekt möchte ich gern noch ansprechen: Mir persönlich gefällt sehr gut das herrlich analoge Spiel bei Schwarz und Weiß, die zweifarbigen, sehr einheitlichen Umwandlungen. Häufig wird einfarbiges Umwandlungsspiel bevorzugt, weil dies fast automatisch die Zügezahl erhöht. Andererseits vereinfacht dies in gewisser Weise auch die Konstruktion, da die andere Seite sich ausschließlich aufs Helfen konzentrieren kann.
Bei zweifarbigem Umwandlungsspiel hingegen ist die Zügezahl typischerweise kürzer, aber gleichzeitig das Spiel meist konzentrierter, da sich eben nicht eine Seite aufs Unterstützen beschränken kann, sondern ebenfalls „aktiv“ spielen muss. Und wenn das gemeinsame Hilfsspiel noch durch weitere Analogien unterstützt wird wie hier durch die hervorragend passenden einheitlichen Rückkehren, dann haben wir eine so großartige Aufgabe vor uns wie hier.
Ich kann es nicht anders sagen: Als ich die Aufgabe sah, war ich sofort hellauf begeistert und bin es auch nach mehrmaligem Durchspielen immer noch — vielleicht sogar noch mehr als beim ersten oder zweiten Mal!
Vielen Dank für die schönen Worte. Auch beim Sachsentreffen dieses Wochenende waren alle begeistert. Ich halte Sie für meine beste Beweispartie und könnte mir vorstellen, dass von der thematischen Intensität in einer orthodoxen Beweispartie nicht mehr möglich ist. Eigentlich wollte ich nur die beiden Pronkins und die beiden Ceriani-Frolkins darstellen. Die vier Switchbacks kamen wie von selbst dazu. Nur in wenigen Momenten wie diesen hat man Caissa Lächeln in diesem Maße auf seiner Seite.
Interessant ist, dass Euclide auf meiner Kiste für die Stellung nach 31….Tf5 etwas weniger als eine Stunde braucht, für jene nach 32….h6 trotz gleicher Zahl an Strategien und gleicher Zahl von Freizügen pro Strategie schon etwa 10 Stunden und bei der kompletten Lösung trotz immer noch gleicher Strategieanzahl -und Freizügezahl bei allen Strategien streikt.
Anläßlich dieser Spitzenkomposition (Gratulation!) spricht Silvio die Grenzen dessen an, was in einer orthodoxen Beweispartie darstellbar ist. Ich frage mich, ob diese Grenzen durch erweiterte Computerprüfbarkeit ausgeweitet werden könnten!? In der Vergangenheit hat die Computerprüfbarkeit den Komponisten z.B. bei orthodoxen Beweispartien und bei Hilfsmatts sicherlich geholfen, diese Grenzen hinauszuschieben. Ähnelt die jetzige Grenze orthodoxer Beweispartien eher dem Zustand der Schlagschach-Beweispartien (bei denen die Möglichkeit, Probleme in 20,0 Zügen zu prüfen, sicherlich eine thematische Erweiterung möglich machen würde), oder ähnelt sie dem Zustand in manchen Gebieten der Hilfsmattkomposition, wo etwa der jetzige (schon recht alte) Längenrekord (ohne Umwandlungsfiguren) vielleicht unüberbietbar ist und wo das 100-Dollar-Thema (ohne Umwandlungsfiguren) anscheinend einfach nicht darstellbar ist?
A wonderful proof game with hitherto unsurpassed unity.
From a solver’s perspective: Too difficult, at least for me.
and me!