Als Preisrichter bei Thematurnieren steht man gelegentlich vor dem Dilemma, eine „elegantere“ Aufgabe mit einer „noch thematischeren“ vergleichen zu müssen, sie zu reihen. Ich selbst tendiere meist dazu, mich an die bekannte Regel des unvergessenen Zweizüger-Großmeisters Herbert Ahues (2.3.1922 – 11.7.2015) zu halten, der es in einem Aufsatz einmal so formuliert hatte: „Tomatensuppe muss zunächst nach Tomaten schmecken“, erst dann könne man sinnvoll das Sahnehäubchen, die Kräuter beurteilen.
Also eine klare Empfehlung, im Thematurnier die Thematik besonders zu betonen und auszuzeichnen. Daran hat sich offensichtlich auch Michel Caillaud beim Richten des diesjährigen Champagne-Turniers gehalten, als er ein thematisch dichteres Stück auf Platz 1 setzte, das strategisch tiefere auf den zweiten Platz.
Champagne-Turnier 2016, 2. Preis Abt. I
Beweispartie in 20 Zügen (12+16)
Gefordert waren in dem Turnier Rundläufe in einer Beweispartie oder mit anderen Retro-Forderungen. In einer Beweispartie war der rundlaufende Stein anschließend zu schlagen.
Beginnen wir aber die Betrachtung zunächst ohne dieses Wissen um das Thema, das wir hier natürlich auch sehen werden.
Es sind noch alle 16 Bauern auf dem Brett, an Umwandlungen brauchen wir also nicht zu denken. Bei Weiß fehlen Dame, ein Turm, der schwarzfeldrige Läufer und ein Springer. Dabei muss der Läufer zu Hause geschlagen worden sein, und wir müssen uns Gedanken machen, wie einerseits der Läufer verschwinden konnte und andererseits das Schach in der Diagrammstellung erklärt werden kann.
Letzter Zug muss offensichtlich 20.—Ta1xXb1+ gewesen sein. X war offensichtlich kein Läufer, fast ebenso offensichtlich keine Dame: sie hätte ja dem schwarzen König Schach geboten, dieses Schachgebot könnte aber nicht legal aufgehoben werden können.
Indirekt haben wir damit auch schon die Schläge des Schwarzen erkannt: [Lc1] wurde zu Hause geschlagen, Turm oder Springer auf b1 und ferner Dame sowie Springer oder Turm auf g6 und h6. Wieso wissen wir das schon? Weil anders [Th8] nicht nach b1 hätte gelangen können, anders nicht die schwarze Stellung hätte verlassen können.
Übrigens sind deshalb Bh6 und Bg6 auch keine „Betrügerbauern“: Sie haben nicht nur wegen der Zeitbeschränkung in der Beweispartie überkreuz geschlagen, sondern hätten dies auch ohne diesen Zeitdruck tun müssen.
Zählen wir uns nun die notwendigen schwarzen Züge: 7+0+5+4+0+4=20 – damit sind alle schwarzen Züge erklärt. Dennoch müssen wir uns die ersten beiden Summanden noch genauer anschauen: [Ke8] benötigt sieben Züge, da er einmal „horizontal“ ziehen muss. Er kann nicht über c4-b3-c2 gekommen sein, dann dazu hätte [Bc2] noch auf c3 stehen müssen. Dann aber hätte [Lf8] noch nicht dort stehen können, andererseits muss für den kürzesten Königsweg Schwarz schon Bf6 gezogen haben, was aber wiederum [Lf8] im eigenen Lager eingeschlossen hätte.
Die fünf Züge des sTb1 sind dann auch klar: Th8-h3-c3xLc1-a1-xXb1+.
Spannend ist nun noch festzustellen, wie denn nach TxLc1 Ke1 gegen Schachgebote des Turms bis zum 20. Zug geschützt werden konnte: Wie wir schon gesehen haben, kann das nicht allein durch die weiße Dame geschehen sein. Ta1 passt dafür auch nicht, er hätte ja schon auf d1 stehen müssen, während Lc1 noch lebte; das geht offensichtlich nicht. Also brauchen wir dafür Springer – und damit sind wir beim Thema des Turniers!
Im Verdacht haben wir nun natürlich [Sb1], der dann thematisch zum Schluss geschlagen und vorher auch für Schachschutz genutzt werden konnte. Damit ist dann auch klar, dass auf g6 und h6 Dame und Turm gestorben sind.
Die Springer-Zugfolgen zu finden ist noch immer nicht ganz leicht, sollte aber nun mit den Vorüberlegungen zu schaffen sein.
1.c4 b6 2.Dc2 Lb7 3.Dg6 hxg6 4.Sc3 Th3 5.Sd1 Tc3 6.a4 Txc1 7.Ta3 Ta1 8.Th3 Lf3 9.Th6 gxh6 10.Sh3 Lg7 11.Sf4 Lc3 12.Sd3 f6 13.Sc1 Kf7 14.Se3 Ke6 15.Sc2 Kd6 16.Sa3 Kc5 17.Sb1 Kb4 18.Sa2+ Kb3 19.a5 Kc2 20.a6 Txb1+.
Hochelegant – und besonders ist zu bemerken, dass der sechszügige Springerrundlauf völlig schlagfrei erfolgt ist. Die Aufgabe hat mir sehr gut gefallen.
Auch mir fiel der Satz mit den “Betrügerbauern” sofort auf. Ich tendiere da allerdings zu Bernds Sichtweise – und sehe da auch keinen Widerspruch zur angegebenen Definition. Für mich muß der Betrüger scheinbar auf seiner Originallinie stehen, kommt aber eben von “nebenan”. Sonst, so glaube ich, wären auch viele FPGs, die “Betrügerbauern” zeigen, unthematisch, weil auch dort ein Turm oder eine Dame nur durch den Überkreuzschlag ins Freie gelangen konnten.
Was sagt eigentlich Silvio Baier, einer der Experten und Mit-Ersteller der genannten Definition, dazu?
Ich glaube, anhand dieser Aufgabe kann man sehr klar die Frage “Betrüger oder nicht?” gemäß meiner zitierten Definition beantworten. Im Diagramm ist ein Überkreuzschlag im Nordosten zwangsweise erforderlich (f/g oder g/h), damit sTb1 überhaupt das “schwarze Gebiet” verlassen konnte. Stünde hingegen sBf6 auf f5 (12.– f5), so wäre ein solcher Überkreuzschlag aus retroanalytischen Gründen nicht zwangsweise erforderlich, da der sT auch z.B. den Weg Th8-h7-f7-f6-e6-e3-c3xc1-a1xb1 hätte nehmen können. In dem Fall also “Betrüger”.
Wobei “Betrügerbauern” für mich kein Wert an sich ist, sondern einfach eine knappe Beschreibung für eine bestimmte Art von Kreuzschlägen.
Fascinating! The Sb1-circuit is good, but to me not the best part. To me, the best part is the rather trickly play to the shield the wK. In fact it is at first not easy to separate the two wS. It also reminds me of the Ceriani (and later Caillaud) retros where you shall undo an “impossible” knot at the bottom line by a row of un-captures.
Das Problem hat mir ebenfalls sehr gut gefallen! Ich schreibe wegen einer anderen Sache: Was ist eigentlich die akzeptierte Definition der “Betrügerbauern”? Muß dabei der Zeitdruck erwähnt werden? Ich bin bisher davon ausgegangen, daß die über Kreuz schlagenden schwarzen Bauern auf g6 und h6 vortäuschen, schlagfrei auf diese Felder gelangt zu sein und deshalb “Betrüger” sind. Wenn wir dagegen Doppelnbauern in der Diagrammstellung sehen, ist offen (und “ehrlich”) zu sehen, daß ein Schlag erfolgte.
Ich habe mich an die Definition im Schwalbe 250A Sonderheft “Future Proof Games — A challanging new concept Part one: Classical FPGs” von Silvio Baier, Nicolas Dupont und Roberto Osorio gehalten:
Imposter Pawn (IP): A Pawn stands on a line which is not its original one, but could legally have been (according to retroanalysis), and the original Pawn no more stands on this line.
Nach dieser Definition (ich mag nicht zu beurteilen, wie allgemein sie akzeptiert ist) sind also sBg7h7 eben keine Betrügerbauern, da sie aus retroanalytischen Gründen (anders konnte sTh8 den Norden nicht verlassen) überkreuz geschlagen haben müssen.