In der letzten Woche hatten wir hier eine Aufgabe gesehen, in der eine Steinart (Grashüpfer) in einem Märchenretro das inhaltliche Spiel bestimmte. Heute möchte ich euch eine Beweispartie zeigen, in der Ähnliches geschieht; das ist der erste Preis aus dem sehr starken Retro-Informalturnier von StrateGems 2012, also vor 10 Jahren.
Nicolas Dupont StrateGems 2012 Beweispartie in 23,5 Zügen (14+15)
Beim ersten Blick auf die Diagrammstellung schaut es aus wie eine Home Base Position – aber dann sieht man den dritten weißen Turm, der ziemlich weit entfernt von seinen eigenen Truppen dem schwarzen König Schach bietet.
Schauen wir dann einmal nach den Schlägen: Bei Weiß fehlen drei Bauern, von denen einer als dritter Turm noch auf dem Brett steht. Ferner sehen wir zwei Bauernschläge durch Schwarz (axb und bxc). Damit müssen die beiden fehlenden Bauern geschlagen werden, das aber klappt nicht direkt.
Das letztjährige Champagnerturnier (Ein Stein schlägt mindestens zwei Umwandlungssteine), traditionell im Rahmen des WCCC von Michel Caillaud organisiert und gerichtet, hat auch im Jahr 2021 wieder sehr gute Retros hervorgebracht. Die Aufgaben, die den ersten bzw. den dritten Preis in der Abteilung für Beweispartien erhalten hatten, habe ich hier schon gezeigt; heute möchte ich auf den zweiten Preis zurückkommen.
Roberto Osorio & Jorge J. Lois Champagnerturnier 2021, 2. Preis Gruppe A Beweispartie in 22 Zügen (13+13)
Die Analyse der schwarzen Stellung ist recht einfach: Nur ein Zug ist sichtbar, es fehlen die drei östlichen Bauern, ansonsten haben wir die schwarze Partieanfangsstellung auf dem Brett.
Die Aktionen des Weißen sind schon komplizierter: Wir sehen auf dem Brett 1+1+3+2+4+6=17 Züge – gleich fünf sind also noch frei! In denen müssen aber die beiden fehlenden weißen Bauern verschwinden und ebenso der [Lc1], der wegen der Felderfarbe nicht auf a6 geschlagen werden konnte!
Am ersten Weihnachtstag 2021 hatte ich hier im Blog als neuen Längenrekord-Versuch eine Beweispartie mit 59,0 Zügen von Dmitri Pronkin, Andrej Frolkin, Werner Keym und Boris Tummes vorgestellt. Doch diese Fassung erlebte nicht mehr das neue Jahr, an Silvester musste ich einen Dual veröffentlichen, den Michael Kosulja entdeckt hatte.
Das ließ Andrej, Werner und Boris nicht ruhen, und so stellen sie hier und heute eine Korrekturfassung mit gleichfalls 59,0 Zügen vor.
Dmitri Pronkin, Andrej Frolkin, Werner Keym & Boris Tummes Rund um die Retroanalyse 2021 (Korrektur Urdruck) Beweispartie in 59 Zügen (14+14)
Der Unterschied zur „Weihnachtsfassung“ besteht in einem einzigen Zug, nämlich 57.Tf5-f6 (statt 57.Tf5-e5). Dieser Zug verursacht jedoch ein extra Tempo, denn der von f8 stammende Umwandlungsturm kann das Feld f6 theoretisch schon in einem Zug (Tf8-f6) erreichen, hier sind aber zwei (Tf8-f5-f6) intendiert.
Bittere Erfahrungen lehrten die Autoren, dass ein extra Tempo fast immer zu Dualen führt. Aus diesem Grund präsentieren sie zusätzlich einen „Plan B“, nämlich eine Stellung mit 58,5 Zügen ohne extra Tempo; sie hoffen, dass wenigstens einer der zwei Rekordversuche Bestand haben wird.
Und dafür drücke ich natürlich fest alle zur Verfügung stehenden Daumen!
Dmitri Pronkin, Andrej Frolkin, Werner Keym & Boris Tummes Rund um die Retroanalyse 2021 (Korrektur Urdruck) Beweispartie in 58,5 Zügen (14+14)
Meine Empfehlungen für Löseversuche bzw. zum mehrfachen Durchspielen der Lösungen gelten natürlich auch für diese beiden Korrekturfassungen: Im Endeffekt solltet ihr die einfach genießen.
Beweispartie in 59 Züge
Und hier nun die Lösung der „Ersatzfassung“:
Beweispartie in 58,5 Züge
Ihr macht euch natürlich um das Problemschach verdient, wenn ihr nun noch prüft: Der alte Rekord von Pronkin und Frolkin ist intensiv getestet worden, und es wäre gut, wenn auf diese Weise auch das Vertrauen in die Korrektheit dieser beiden Fassungen gesteigert werden könnte!
Als Preisrichter für die Retro-Urdrucke der Schwalbe im Jahr 2022 konnte ich Richard Dunn, meinen Sachbearbeiter-Kollegen von The Problemist, gewinnen. Aus seiner Rubrik, konkret vom Januar 2021, habe ich für heute eine Beweispartie eines Autors ausgesucht, an dessen Werken ich immer Freude habe.
Rustam Ubaidullajew The Problemist 2021 Beweispartie in 15,5 Zügen (14+12)
Rustam ist kein wahnsinnig produktiver Komponist: Die PDB enthält 77 Aufgaben von ihm – und davon sind 74 Beweispartien! Ohne sich auf spezielle Modethemen zu konzentrieren sind seine Aufgaben stets originell und attraktiv zu lösen. Ich glaube, das gilt auch für das heutige Beispiel. Und so ist es nicht überraschend, dass ich in dieser Rubrik bereits mehrere seiner Aufgaben vorgestellt habe. Wenn ihr Lust und Zeit habt, nutzt einfach die Suchfunktion, um die Aufgaben zu finden, zu lösen oder durchzuspielen!
Das heutige Beispiel ist relativ kurz, sodass ich nur wenige Hinweis zur Lösung geben möchte. Bei Weiß fällt natürlich sofort die Homebase auf; da gibt es also keine Züge zu zählen. Die schwarzen zu zählen ist schon deutlich interessanter:
4+1+1+3+0+4=13 – zwei Züge sind also frei? Nein, nicht wirklich, denn woher sTd8 auch kommen mag, dem muss einer der beiden Springer Platz gemacht haben: der muss also einschließlich seiner Rückkehr zwei Mal gezogen haben, und damit sind alle schwarzen Züge erklärt.
Dies russische Problemschachseite superproblem.ru hat in ihrem 266. Thematurnier erstmals Retroanalyse aufgegriffen — es geschehen noch Zeichen und Wunder!
Die ausführliche Ausschreibung für die geforderten Beweispartien enthält thematische und nicht-thematische Beispiele; ein paar sprachliche Klarstellungen wurden heute bereits in der Retro Mailing List vorgenommen: “pieces” umfassen auch Bauern, und Umwandlungssteine sind erlaubt, solange sie aus einem Figurenkasten stammen (auch zwei gleichfeldrige Läufer werden als unzulässig angesehen).
Einsendungen bis zum 28. Februar 2022 schickt bitte per Mail an Alexej Oganesjan (alexeioganesyan(at)gmail.com); Preisrichter ist Michel Caillaud.
So wie manche hier regelmäßig am Sonntagmorgen nach dem Retro der Woche schauen, so lohnt es auch, am Freitagnachmittag nach dem neuen YouTube-Beitrag von Mustermatt, dem Schwalbe-Kanal zu schauen.
Dort stellt Johannes Quack immer interessant und mit vielen Hintergrundinformationen — dabei bleibt er trotzdem stets gut verständlich — ein oder zwei Schachprobleme vor, erklärt daran wesentliche Aspekte des Problemschachs.
Am letzten Freitag, also an Silvester 2021, hat er dort Beweispartien vorgestellt. Eine prima Einführung ist das, und ich kann euch nur empfehlen, den Beitrag anzuschauen! Und kopiert euch den Link, wenn ihr mal in eurem Schachclub Beweispartien vorstellen wollt…
Im Retro der Woche 42/2021 hatte ich den ersten Preis in der Beweispartie-Abteilung des Retro-Turniers 2019 in der Schwalbe vorgestellt. Heute will ich den zweiten Preis folgen lassen, der mir auch sehr gut gefällt, da er eine sehr originelle Idee höchst elegant präsentiert.
Reto Aschwanden Die Schwalbe 2019, 2. Preis Gruppe A Beweispartie in 18,5 Zügen (14+14)
Kein einziger Bauernschlag ist im Diagramm auszumachen, bei Schwarz ist nur ein einziger Zug zu sehen — also beginnen wir mit dem Zählen der weißen Züge: Sicherlich können wir daraus erste Schlüsse ziehen.
Also: 3+1+3+4+1+5=17 — zwei Züge sind noch frei. Aber waren wir da nicht zu optimistisch? Was passierte beispielsweise auf der h-Linie?
Wenn sich das Schachbrett vor unseren Augen dreht, kann das daran liegen, dass es auf einer Tortenplatte steht, zum Beispiel auf der berühmten von Dr. Ernst Bachl. Oder das liegt an dem einen oder anderen Silvesterpunsch zu viel.
Wenn sich aber nur das Zentrum des Bretts dreht, dann liegt das wahrscheinlich an der Märchenschach-Bedingung „Actuated Revolving Centre“!
Deren Regel ist eigentlich ganz einfach: Nach einem Zug ins Zentrum (Felder d4 e4 d5 e5) oder aus dem Zentrum heraus dreht sich das Zentrum mit all seinen Steinen darin um 90° im Uhrzeigersinn.
Zum Jahreswechsel lädt uns Michael Barth ein, zwischendurch ins Rotieren zu kommen. Wer rotiert mit?
Michael Barth Urdruck 31.12.2021 Beweispartie in 5 Zügen, Actuated Revolving Center (16+16)
Die Lösung findet ihr hier im kommenden Jahr — etwas konkreter: etwa in einer Woche!
Und nun wünsche ich euch einen schönen Silvestertag, kommt gut ins neue Jahr, dort sehen wir uns dann hoffentlich gesund und munter wieder!
Hier die Lösung:
Lösung
(“D” bedeutet Drehung des Zentrums)
1.e2-e4 D d7-d5 D 2.d5-d6 D Lc8-f5 3.d2-d4 D e7-e5 D 4.e5-e6 D d4-d3 D 5.Lc1-f4 e4-e3 D
Da zeigt Michael jeweils zwei weiße und zwei schwarze schlagfreie Betrüger-Bauern, ähnlich den orthodoxen Kreuzschlägen — wenn das nicht spezifisch ist für diese interessante Bedingung!