Retro der Woche 47/2024

Im letzten Retro der Woche hatte ich eine Aufgabe aus diesem Jahr vorgestellt — heute möchte ich genau 100 Jahre zurückspringen.

Bereits in ihrem dritten Heft im Oktober 1924 veröffentlichte Die Schwalbe einen mehr als zweiseitigen Artikel „Einführung in das Retroschach“ von Hans Klüver (4.3.1901–26.2.1989), den vielleicht der eine oder andere, der sich schon länger mit Problemschach befasst, noch von seinen Besuchen beim Andernach-Treffen und seinen dortigen Vorträgen oder Märchenturnieren persönlich kennt.

Allein das ist sicher bemerkenswert, aber auch die Länge des Beitrags, bedenkt man, dass das Heft damals einen Umfang von acht Seiten hatte.

Klüver war mit seinen 23 Jahren schon kein Problem- oder Retro-Greenhorn mehr; er hatte bereits verschiedene und bemerkenswerte Artikel zur Problemtheorie veröffentlicht, etwa seine Beiträge zur „Schnittpunkt-Systematik“ und zu „Schnittpunktphänomene in der retrograden Analyse“, ein 20-seitiger, immer noch lesenswerter Beitrag im Kongressbuch des Schachkongresses von Teplitz-Schönau 1922.

In seinem Schwalbe-Beitrag stellte er neben einem eigenen Urdruck die folgende kurz zuvor erschienene Aufgabe des Rumänen Léon Loewenton (6.1.1889–23.9.1963) vor, die didaktisch wegen ihrer Zwillingsbildung sicherlich gut für solch einen Artikel gewählt war.

Léon Loewenton
Chess Amateur 1924
a) Der weiße K hat gezogen, b) Der weiße K hat nicht gezogen. In welchem Falle kann Weiß in 2 Zügen matt setzen? (13+14)

 

In seinem Artikel geht Klüver speziell auf die Retro-spezifischen Rückzugsweisen: den Entschlag, die Entwandlung, den Entwechsel (so nannte er die Rücknahme der Rochade) und den Entkreuzschlag (Rücknahme eines Schlagens im Vorübergehen) ein.

Den folgenden Teil, in dem er die Lösung des Loewenton-Stücks vorbereitet, möchte ich wörtlich zitieren, ebenso wie seine Darstellung der Lösung, die ich aber wie üblich zunächst „verstecke“:

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Retro der Woche 27/2024

Bleiben wir noch einmal bei Märchenschach-Beweispartien.

In den letzten Tagen hatte ich intensiv in alten Schwalbe-Heften geblättert und war im Januarheft 1931, Seite 2, auf den Beitrag des Schwalbe-Gründungsvorsitzenden Anton Trilling „Die Legalität der Problemstellungen mit Märchenfiguren“ aufmerksam geworden.

„Wie schon immer in Turnieren mit Märchenfiguren, so mußte auch wieder bei der Entscheidung im 4. Thematurnier des ‚Essener Anzeigers‘ (Grashopperturnier) das Fehlen einer klaren, gesetzlichen Deutung dieser Frage peinlich empfunden werden.“ Natürlich ruft er mit der Forderung einer „gesetzlichen Deutung“ nicht nach BGB oder StGB, sondern, wie wir es heute formulieren würden, einer Festlegung im Codex. Trilling lehnt die damals vielfach genutzte Regelung „Märchenfiguren müssen durch Umwandlung entstanden erklärbar sein.“ ab mit der Begründung, dass dann die, wie er es nennt, „Stammeltern“ fehlen. Daher postuliert er, die Grundstellung mit Märchenfiguren sei die ganz normale plus jeweils ein weißer und ein schwarzer Märchenstein besagter Art irgendwo auf dem Brett.

Die engagierte bis höchst erregte Diskussion zu dieser Frage ging teils deutlich über den eigentlichen Inhalt hinaus (bis zu: Wieso verplempert Die Schwalbe wertvollen Druckraum für solch eine absurde und irrelevante Frage?), ohne hier zu einem Konsens zu kommen.

Mir erscheint die Trilling-Lösung eher wie der Besuch von Außerirdischen auf dem friedlichen Schachbrett, und heute wird die Frage nur noch bei retroanalytischem Inhalt betrachtet, ansonsten ist Legalität einer Märchenstellung weder definiert noch gefordert, so sieht es auch der aktuelle Codex vor.

Und ansonsten kann man die Einführung von Märchenfiguren ja auch über eine „Bedingung“ erreichen, so wie es der Autor unserer heutigen Aufgabe gemacht hat.

Mark Kirtley
The Problemist 2019, 3. Preis
Beweispartie in 18 Zügen, in der PAS ersetzen Grashüpfer die Springer (13+13)

 

Zu zählen sichtbarer Züge gibt es nicht allzu viel: gerade einmal drei Bauernzüge bei Weiß, und bei Schwarz ist es auch nicht extrem viel: 2+0+3+1+0+3=9 – exakt die Hälfte der schwarzen Züge ist sichtbar. Unter thematischen Gesichtspunkten besonders überraschend, dass man keine Grashüpferzüge sieht.

Natürlich kommen noch Züge hinzu, denn die fehlenden Steine (Dame und die Türme bei Weiß, Dame, Turm und [Bf7] bei Schwarz) müssen ja irgendwie verschwunden sein. Aber viel bringt das etwa bei Weiß auch nicht: [Th1] und [Dd1] benötigen nur einen sichtbaren Zug zum Selbstopfer, wenn das so aufgeht, und [Ta1] immerhin mindestens drei, so sind wir „schon“ bei minimal acht – und Weiß muss auch noch [Bf7] beseitigen.

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Neue Schwalbe-Blätter

Auf die Schwalbe-Blätter hatte ich hier schon einmal hingewiesen: Das sind jeweils vier Seiten, die im Internet auf der Schwalbe-Seite immer in den ungeraden Monaten erscheinen und sich hauptsächlich an Probleminteressierte und -neulinge wendet — sie sind stets erfreulicher Lesestoff.

Einen Verweis auf alle bisher erschienenen Blätter mit den Download-Links gibt es natürlich auch. In diesem Jahr beschäftigten sich die Ausgaben bisher mit “Problemschach im Internet” und Retroanalyse. Na, wenn sich das nicht spannend liest…

100 Jahre Schwalbe

Heute jährt sich zum hundertsten Male die Gründung der – wie sie heute heißt – Schwalbe, deutsche Vereinigung für Problemschach e.V.. Am Sonntag, dem 10 Februar 1924 kamen auf Einladung von Anton Trilling in Essen-Rüttenscheid 15 Schachfreunde zusammen, um eine „Vereinigung von Problemfreunden“ zu gründen. Die ersten Konzepte hierfür stammten von Trilling und dem Problemredakteur des Essener Anzeigers, dem Kieler Wilhelm Maßmann. Am 20. Januar 1924 trafen sich bereits 14 Schachfreunde zu einem inoffiziellen Treffen, bei dem die Gründung und auch die zukünftige Satzung vorbereitet wurden.

Die lebhafte Geschichte der Schwalbe kann in Wolfgang Dittmanns Buch „Der Flug der Schwalbe Geschichte einer Problemschach-Vereinigung“ aus dem Jahr 1988 (zweite erweiterte und aktualisierte Auflage von Hans Gruber und mir aus dem Jahr 2018, jährlich mit Nachträgen aktuell gehalten) nachgelesen werden. Das Buch kann übrigens beim Bücherwart der Schwalbe noch bezogen werden.

Das wäre sowieso meine Empfehlung für heute: Bei einem Sekt, einem guten Glas Wein mal wieder im „Flug der Schwalbe“ lesen und auch noch diesen retroanalytischen Leckerbissen von zwei Schwalbe-Gründern “zwischendurch” zu lösen.

Hugo August & Anton Trilling
Die Schwalbe 1940
Welches waren die letzten 15 Einzelzüge? (11+14)

 

Meines Wissens ist dies der noch immer gültige Rekord des dargestellten, spektakulären Themas. Die Lösung findet ihr hier wie immer in etwa einer Woche!

Viel Spaß beim Lösen und Geburtstag feiern!

Lösung

R: 1.e7-e6+ Th6xDg6+ 2.Dh5-g6+ Sg6-e5+ 3.Tc5xDd5+ Db3-d5+ 4.Tc4xLc5+ Lf2-c5+ 5.Kd5-d6+ e3-e4+ 6.Tc2-c4+ Tc4-f4+ 7.Th3-f3+ Tg2-g5+ 8.Dh4-h5+

Das ist schon bewundernswert: 15 Schachgebot-Rücknahmen in 15 letzten eindeutigen Zügen! Dmitri Baibikov hatte ja schon dankenswerter Weise auf den vorherigen Rekord (mit „nur“ zehn Themazügen, allerdings ohne Umwandlungssteine) hingewiesen. Das könnt ihr euch natürlich auch in der PDB anschauen: P1012930.

bernd ellinghoven 70

Gäbe es einen Welt-feenschach-Tag, so müsste dies der 24. August sein: An dem feiern beide feenschach Hauptakteure Geburtstag. Während Hans Gruber heute einen ziemlich krummen Geburtstag feiert, ist der von bernd ellinghoven deutlich runder: Er vollendet heute sein 70. Lebensjahr. Dazu gehen herzliche Glückwünsche nach Aachen (und natürlich auch zu Hans nach Bobingen): Für dein neues Lebensjahrzehnt, lieber bernd, wünsche ich dir alles denkbar Gute; besonders für deine Gesundheit drücke ich dir natürlich fest die Daumen!

Über bernd hier viel zu erzählen, über seine großen Verdienste für feenschach und Die Schwalbe, seine Kompositionskunst, seine Artikel und Preisberichte, hieße Printen nach Aachen zu tragen; wer Lust hat, kann eine kurze und natürlich unvollständige Laudatio im aktuellen Schwalbe-Heft nachlesen.

Herausgesucht habe ich ein Zwei-Väter-Mini-Retro mit toller Zwillingsbildung:

Wolfgang Dittmann & bernd ellinghoven
The Problemist 1976, 2. Preis.
-1w, dann h=2 a) Längstzüger b) Kürzestzüger (2+2)

 

Das wollt ihr sicherlich selbst herausbekommen? Viel Spaß dabei – und ansonsten gibt es die Lösung hier in etwa einer Woche.

 

Lösung

a) R: 1.Kc7xSc8, dann 1.bxa7 Sb6 2.Kxb6=
b) R: 1.a5xLb6, dann 1.a6 Lc7 2.Kxc7=

Weiß hat zurückgenommen, macht also den ersten Vorwärtszug – „eigentlich“ also ein h=1,5.

Neuer Schwalbe-Sachbearbeiter

Im Frühjahr 2008 habe ich vom legendären Günter Lauinger die Retro-Sachbearbeitung der Schwalbe übernommen. Ich hatte mir damals vorgenommen, die Aufgabe zehn Jahre lang wahrzunehmen — nun sind es gut fünf mehr geworden.

Ich freue mich sehr, dass ich nun den Staffelstab an einen deutlich jüngeren Retrofreund weiterreichen kann: Ab sofort übernimmt Jochen Schröder (retros@dieschwalbe.de) diese Aufgabe. Lieber Jochen, ich wünsche dir viel Erfolg und auch viel Freude bei dieser neuen Aufgabe.

Euch allen, ob nun Komponisten, Löser, Kommentatoren, Richter, sage ich herzlichen Dank für eure Unterstützung: Ohne eure Beiträge, ohne eure Unterstützung könnte die Retroabteilung der Schwalbe nicht ansatzweise die Qualität und Vielfalt bieten, für die sie weltweit geschätzt wird. Ganz herzlich bedanke ich mich deshalb bei euch allen — und bitte euch gleichzeitig, Jochen genauso toll zu unterstützen, wie ihr es mit mir getan habt.

Dass ich mich nicht aus der Retrowelt zurückziehe, könnt ihr euch sicher denken…

Retro der Woche 48/2022

Heute will ich schon einmal ein wenig vorgreifen und euch schon Appetit auf das Dezember-Doppelheft der Schwalbe machen.

Dort wird der erste Teil einer dreiteiligen Artikelserie von Silvio Baier erscheinen mit dem Titel „Orthodoxe Beweispartien mit je zwei Ceriani-Frolkins und Pronkins“. Der ist nicht nur extrem lesend- und studierenswert wegen der über 70 Aufgaben, die Silvio dort vorstellen wird, sondern auch, weil er uns Leser dabei einen Blick in seine Konstruktionswerkstatt werfen lässt.

Aus seiner Einführung:
„Es ist schon mehr als ein Jahrzehnt her, dass Nicolas Dupont, Roberto Osorio und ich eine syste- matische Auflistung der Future Proof Games (FPGs) vorstellten (https://www.dieschwalbe.de/hefte/schwalbe_250A_August_2011.pdf). In den Jahren 2014-2016 erschienen die FPG chronicles in StrateGems mit einigen Updates. Wenngleich ich auch viele andere FPGs (und auch andere Beweispartien) komponiert habe, galt dabei meine spezielle Liebe immer der Kombination aus Ceriani-Frolkin und Pronkin. Es handelt sich um zwei paradoxe Themen, die beide mit Umwandlungen zu tun haben (Ceriani-Frolkin-Thema = ein umgewandelter Bauer wird geschlagen; Pronkin-Thema = ein Originalstein wird geschlagen und auf dessen Ursprungsfeld durch einen in Art und Farbe gleichartigen Umwandlungsstein ersetzt) und die sich sehr gut ergänzen.“

Silvio Baier
Probleemblad 2018, nach Nicolas Dupont
Beweispartie in 27,5 Zügen (12+16)

 

Betrachten wir also das heutige Beispiel, in dem Aufsatz die Nr. 1. Vielleicht stellt ihr einfach schon mal erste Überlegungen zur Lösestrategie an? Ihr habt natürlich den Vorteil, dass ihr bereits das Thema kennt, mit diesem Wissen nach spezifischen Hinweisen für die Lösung suchen könnt. Silvio beschreibt dann auch die generelle Strategie zum Komponieren:

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Retro der Woche 33/2020

Immer wieder sorgt der berühmt-berüchtigte „Kölner Keller“ bei Fußballfans für Aufregung, für immer wieder neuen, nie versiegenden Diskussionsstoff, wenn der „Videoschiedsrichter“ aus dem Keller den auf dem Platz an den Fernseher bittet, um sich noch einmal eine wichtige Szene anzuschauen und dann gegebenenfalls seine bisherige Entscheidung zu revidieren.

Den Videoschiedsrichter brauchen wir bei Preisberichten natürlich nicht, aber auch da gibt es gelegentlich Diskussionen — z.B. „Auszeichnung trotz Vorläufers“? Diese Situation gab es auch beim Retropreisbericht 2020 der Schwalbe aus dem Aprilheft 2022. Dort hatte der Preisrichter eine Aufgabe nicht berücksichtigt, weil sie zu nahe am eigenen Vorläufer sei — diesen Vorläufer hatte ich im Retro der Woche 11/2015 vorgestellt (und den solltet ihr euch dringend jetzt noch einmal anschauen!).

Nun kam Richter Paul Rãican nach der Diskussion mit einigen Retrofreunden, speziell mit Werner Keym zu einem anderen Ergebnis als vorher; im Augustheft vergab er nachträglich einen Spezialpreis für unser heutiges Retro der Woche.

Harry Goldsteen
Die Schwalbe 2020, Spezialpreis
Löse auf! (6+13)

 

Die Matrix hat natürlich große Ähnlichkeit mit Harrys Stück aus dem Jahr 1989 — auch das ist ja ein „nach…“ Problem von Andrej Frolkin; das findet sich in der PDB als P0000096; die Geschichte dieser drei Aufgaben kann auch nachgelesen werden in meinem Artikel „Entschlag auf der Fesselungslinie“, Die Schwalbe Juni 2020, S. 561-563.

Bei Schwarz fehlen die drei Schwerfiguren, deshalb kann Weiß auch noch nicht g5xD/Tf6 zurücknehmen: dem wäre ein illegales Schachgebot gegen den weißen König vorausgegangen. Und nach dem offensichtlichen 1.– Sh7-f8+ steht Schwarz direkt vor dem Retropatt, könnte sofort keinen weiteren Zug zurücknehmen.

Wie kann nun Weiß die Stellung legal halten?

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