Retro der Woche 16/2022

Preisrichter Paul Rãican hat seinen Bericht für den Schwalbe-Jahrgang 2020 dreigeteilt: Rückzüger, Beweispartien und andere Retros. In dieser und den folgenden zwei Folgen möchte ich die drei ersten Preise vorstellen – und bei den Rückzügern gibt es sofort eine Überraschung: sicher erwartet man gerade in der Schwalbe hier ein Anticirce-Proca. Aber weit gefehlt, Paul setzte eine „Pacific-Seeschlange“ an die Spitze, also einen Verteidigungsrückzüger (gelegentlich auch “friedlich” genannt), bei dem im Rückspiel nicht entschlagen werden darf.

Dieser Typ gilt meist als nicht besonders attraktiv, weil gerade die Entschlag-Würze fehlt, hier aber sehen wir komplexe und interessante Manöver, die den Lösern, die sich damit beschäftigt hatten, und offenbar auch dem Richter sehr gut gefallen hatten.

Vlaicu Crişan & Bojan Basić
Die Schwalbe 2020, 1. Preis
-111 & s#1, Pacific Retractor (9+8)

 

(Im Preisbericht in der Schwalbe hat sich leider ein Tippfehler eingeschlichen: Dort ist fälschlich „#1“ in der Forderung notiert!)

Paul schrieb dazu: „Eine großartige Idee: In einem Pacific-Retraktor muss Schwarz nach 50 Zügen einen Bauernzug zurücknehmen, um die 50-Züge-Regel zu umgehen. Die Schlussposition für das s#1 ist sehr sorgfältig vorbereitet und macht die weißen Retrozüge der Offiziere (keine königlichen) eindeutig. Das verdient die Aufnahme ins FIDE-Album.“

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Retro der Woche 10/2022

In dieser Woche ist die erste Ausgabe 2022 des niederländischen Probleemblad erschienen. In den Retro-Lösungen zu den Urdrucken aus Heft 3/2021 fand ich ein sehr interessantes Stück, das ich euch heute zeigen möchte – speziell, weil der Sachbearbeiter Roberto Osorio hier einen interessanten Vergleich zu einer völlig anders gearteten Forderung zieht.

Jorge Lois & Roberto Osorio
Probleemblad 2021
Beweispartie in 22 Zügen (13+15)

 

Bei Schwarz fehlt nur ein Stein, nämlich ein Turm, und der starb auf b3. Bei Weiß fehlen ein Turm sowie [Bd2] und [Bh2]. Weiß kann nicht mehr geschlagen haben, also wurde [Bh2] auf h6, der fehlende Turm auf e6 und [Bd2] auf der d-Linie geschlagen worden sein.

Versuchen wir uns nun am Abzählen der sichtbaren Züge: Bei Schwarz sehen wir 5+0+3+1+0+3=12 Upps, da fehlen noch glatt zehn Züge!

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Retro der Woche 50/2021

Vor zwei Wochen habe ich hier den berühmten Beweispartie-Längenrekord von Karl Fabel aus dem Jahr 1947 vorgestellt und dabei erwähnt, dass er 35 Jahre lang Bestand hatte. Dann musste ein junger Mann aus Frankreich kommen, der zur Zeit der Veröffentlichung von Fabels Rekord noch lange nicht geboren war, erst zehn Jahre später auf die Welt kam, sich dann aber sehr schnell als Riesentalent zeigte, der speziell die Beweispartie neben dem gleich alten (jungen — beide sind Jahrgang 1957) Andrej Frolkin und anderen Pionieren nach vorn, zu ihrer heutigen Blüte brachte: Michel Caillaud.

Michel Caillaud
Die Schwalbe 1982, 1. Preis, Karl Fabel zum Gedenken
Beweispartie in 47 Zügen (11+15)

 

Eine gewisse Ähnlichkeit weisen die beiden Stellungen schon im Diagramm auf: weißes Material auf der achten Reihe, schwarzes im Südwesten, ähnliche Bauernstrukturen; weitere Ähnlichkeiten werden wir entdecken, wenn wir uns die Lösung anschauen.

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Retro der Woche 48/2021

Nachdem wir in der letzten Woche bereits eine Retro-Tour in die Geschichte der Retroanalyse unternommen hatten, möchte ich das heute fortsetzen und eine sehr bekannte, klassische Beweispartie (wieder) zeigen. Viele werden sie kennen, aber ich finde, die anzuschauen kann kaum langweilig werden.

Als Thomas Rayner Dawson 1913 die erste Beweispartie (P0002274) vorstellte, dachte er hauptsächlich an möglichst lange Konstruktionen, weniger an thematische Inhalte, wie wir sie heute an Beweispartien lieben. Direkt nach dem Krieg beschäftigte sich dann Karl Fabel mit dieser Rekordjagd, deren Ergebnis er in seinem Buch „Am Rande des Schachbretts“ veröffentlichte; sein Ergebnis ist auch heute noch faszinierend.

Karl Fabel
Am Rande des Schachbretts 1947
Beweispartie in 41,5 Zügen (13+14)

 

Erschreckend wenig Züge kann man direkt aus der Diagrammstellung ableiten; bei Weiß sind dies gerade einmal 8+3+1+6+0+5=23: 19 Züge sind also noch frei. Ok, wir müssen noch berücksichtigen, dass ein Turm und zwei Springer bei Weiß verschwinden müssen, dennoch bleibt viel frei. Wir werden nachher sehen, wie Fabel die daraus resultierende eigentlich extreme Nebenlösungsgefahr bannt.

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Retro der Woche 42/2021

Gestern erst habe ich auf die Oktober-2021-Ausgabe der Schwalbe hingewiesen, habe ich erst darauf hingewiesen, dass ich noch darauf zurückkommen werde — und heute ist es schon so weit: Ich möchte euch den ersten Preis der Beweispartie-Abteilung des Jahrgangs 2019 vorstellen.

Michel Caillaud
Die Schwalbe 2019, 1. Preis Gruppe A
Beweispartie in 23,5 Zügen (16+16)

 

Hier müssen wir erst gar nicht nach verräterischen Doppelbauern schauen: Es sind noch „alle Mann an Bord“! Also versuchen wir unser Glück mit den Zählen der sichtbaren erforderlichen Züge: Bei Weiß sind das 7+0+0+2+1+2=12 — das ist erst einmal erschreckend, wenn die Hälfte der Züge noch offen ist.

Bei Schwarz kommen wir auf 1+2+8+3+4+5=23 — alle schwarzen Züge sind erklärt. Um mit acht Zügen der schwarzen Türme auszukommen, brauchen wir die Zugwege Th8-h6-c6-c3(4) sowie Ta8-e8-e6-f6-f4(3)-c4(3), also 3+5.

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Retro der Woche 35/2021

Nach dem 1. Preis der Beweispartien im Schwalbe-Retroturnier 2018 möchte ich nun der Sieger der zweiten Kategorie „Klassische Retros und Rückzüger“ vorstellen: ein imposantes Werk von Michel Caillaud, einer der tiefsten Verteidigungsrückzüger, den ich kenne.

Michel Caillaud
Die Schwalbe 2018, Wolfgang Dittmann zum Gedenken, 1. Preis Abteilung B
#1 vor 71 Zügen, VRZ Proca ohne VV(9+10)

 

„ohne Vorwärtsverteidigung“ bedeutet, dass Schwarz nicht das Recht hat, nach einer Zugrücknahme das Vorwärtsziel zu erfüllen. So war es von Zeno Proca auch gedacht, jedoch hat sich in den letzten gut vierzig Jahren eher als Standard „mit Vorwärtsverteidigung“ durchgesetzt.

Zunächst erkennen wir, dass die schwarzen Bauern auf der a- und der b-Linie alle fehlenden weißen Figuren geschlagen haben. Damit kommt sBf3 schlagfrei von f7; die weißen Bauern haben also zumindest vier der fehlenden sechs schwarzen Steine geschlagen.

Nach R 1.Ld6-b8 wäre Weiß schon am Ziel, wenn nach vor: 1.axb4+ Schwarz nicht noch das Fluchtfeld a6 hätte. Das kann wLg8 nehmen, dafür hat Weiß nun 70 Züge Zeit — und muss natürlich aufpassen, dass der schwarze König in seinem Nest bleiben muss. Das erfordert eine Menge an Zickzack-Manövern von König und Läufer.

Ich gebe nun „einfach“ die Lösung mit den Anmerkungen von Michel wieder: Natürlich lade ich jeden ein, selbst Löseversuche zu unternehmen, aber mit den Anmerkungen zusammen sollte sich die Strategie des Weißen auch im Nachspielen erschließen. Dafür vielleicht die Empfehlung, die Lösung erst einmal komplett durchzuspielen und das dann zu wiederholen, wobei ihr nun besonders auf die Erklärungen des Autors achten solltet.

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Retro der Woche 31/2021

Bleiben wir mit dem heutigen „Retro der Woche“ noch ein wenig in den Niederlanden! Da möchte ich euch eine ziemlich aktuelle Beweispartie (erschienen im letzten Probleemblad Heft 2020, die Version, die keine Korrektur, sondern eine „Verschönerung“ der Diagrammstellung beinhaltet, in Proobleemblad 2/2021) vorstellen, die sicher zum Lösen anregt.

Peter van den Heuvel
Probleemblad 2020 (Version)
Beweispartie in 20,5 Zügen (15+14)

 

Zunächst einmal stellen wir fest, dass bei Weiß nur ein Turm fehlt, der auf der a-Linie geschlagen wurde. Bei Schwarz fehlen ein Turm und [Lc8], die sich beide auf der g-Linie opfern mussten: wegen der Felderfarbe der Läufer auf g4, der Turm also auf g3. Und egal, welcher der beiden schwarzen Türme sich nun auf g3 opferte: Er musste zur Minimierung seiner Züge über g6 kommen.

Und damit wissen wir, dass die schwarzen Türme mindestens fünf Züge gemacht haben – und dass zuerst der Turm und anschließend der Läufer geopfert wurden.

Das merken wir uns für später; zunächst wollen wir einmal die sichtbaren Züge zählen.

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Retro der Woche 27/2021

Da wird in StrateGems das Retroturnier traditionell aufgeteilt in „Beweispartien“ und (sonstige) „Retros“, und dann erwischt Dmitrij Baibikov für seine Berichte für das Jahr 2018 einen Zwitter… Diese ganz seltene Kombination ist schon interessant, denn normalerweise geht die Eindeutigkeit der Züge einer Beweispartie ziemlich komplett verloren, wenn man den „Zeitdruck“ aus der Stellung nimmt, die Auflösung ohne Zugbeschränkung durchführt.

Yoav Ben-Zvi & Michel Caillaud
StrateGems 2018, 1.-2. Preis Beweispartien
a) Welcher Offizier muss c4 besetzt haben? b) Beweispartie in 35,5 Zügen (10+15)

 

Neben dem weißen Wanderkönig fällt sicherlich schnell der schwarze Bauer auf c2 auf: Als “Volet-Bauer” kommt er von h7, hat also fünfmal geschlagen; zusammen mit exLd6 (alle anderen fehlenden weißen Steine wurden ja auf weißen Feldern geschlagen) sind damit alle fehlenden weißen Steine — in diesem Fall Offiziere — erklärt. Dieser Schlag war auch der letzte, denn vorher musste [Bh7] bereits auf c2 stehen, bevor Weiß d3 und dann L>d6 spielen konnte.

Was konnte denn der letzte Schlag d3xXc2 des [sBh7] gewesen sein?

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