Retro der Woche 38/2023

Nachdem ich im Retro der Woche 35/2023 eine Aufgabe von Tom Volet vorgestellt hatte, kommentierte Dmitrij Baibikov: „Dieses Stück hat mich auf die Idee für eine eigene Aufgabe gebracht.“ Die lohnt es dann, sie hier einmal anzuschauen!

„Natürlich“ geht es dann hier auch um Schutzschilde, „natürlich“ werden wir Ähnlichkeiten in der Matrix und in der Idee entdecken — gerade das macht es dann doppelt interessant, beide Stücke miteinander zu vergleichen. Und daher empfehle ich allen, die das bisher noch nicht getan haben, Toms Stück von vor drei Wochen nun genau zu betrachten.

Doch nun zu Dmitrijs Aufgabe:

Dmitrij Baibikov nach Thomas Volet
MatPlus 2008, 1. Preis
Löse die Stellung auf (14+12)

 

Auf den ersten Blick haben die beiden Aufgaben optisch nicht viel gemein, aber genaueres Hinschauen zeigt, dass auch hier die Stellung erst mit R: Kd5-c5 e7-e6+ (oder auch anders herum) aufgelöst werden kann, dass der dafür notwendige [Lf8] erst noch entschlagen werden muss, und dass für seine Heimkehr zumindest auf d6 ein Schild genutzt werden muss.

Doch welcher Stein kann eigentlich auf d6 schützen? Dazu müssen wir uns die Schläge anschauen, denn der Schutzstein kann noch nicht auf de Brett stehen – welcher sollte das sein?

Weiß hat offenbar axBb und f2xXe3 geschlagen, schwarz ebenso offensichtlich c4xYd3 – da bei Weiß ein Turm sowie [Lc1] fehlen, kann wegen der Felderfarbe dort nur der Turm geschlagen worden sein. Also muss Schwarz den Läufer im Südosten entschlagen haben: f4xLg3, und dieser Läufer muss dann auf d6 seine König schützen.

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Retro der Woche 37/2023

In der letzten Woche habe ich hier den ersten Preis beim 11. FIDE World Cup vorgestellt, heute möchte ich euch das zweitplatzierte Stück zeigen: Wieder eine Beweispartie. Das ist kein Zufall, da das Turnier, wie bereits im letzten Jahr, ausschließlich für orthodoxe Beweispartien ausgeschrieben war; andere Retros waren nicht zugelassen. Das finde ich persönlich bedauerlich; ich hoffe, dass sich das im kommenden Jahr ändert.

Christoph Fieberg
11. FIDE World Cup 2023, 1 ehrende Erwähnung & Silbermedaille
Beweispartie in 22 Zügen (13+14)

 

Üblicherweise sind offensichtliche Umwandlungssteine (wie hier ein zweiter schwarzfeldriger schwarzer Läufer) in Diagrammstellungen von Beweispartien verpönt, weil sie oft schon eine Menge über die Lösung verraten. Das gilt natürlich nicht, wenn dieser Umwandlungsstein thematisch ist, und das ist er im vorliegenden Problem.

Zählen wir zunächst einmal die sichtbaren Züge: Bei Weiß sehen wir 5+0+4+2+3+3=17, bei Schwarz 1+3+0+9+2+3=18. Die neun Läuferzüge von Schwarz schließen natürlich die fünf Bauernzüge zur Umwandlung mit ein. Übrigens könnte die Dame auch in zwei Zügen via h4 nach h1 gelangen, das erfordert aber einen weißen Zug mehr (h2xg3xh4), und dies führt zu Problemen mit dem Weg des [Th1].

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Retro der Woche 36/2023

Ich muss gestehen, dass ich ziemlich enttäuscht war, als ich die Retro-Einsendungen zum 11. FIDE World Cup erhielt: Ich hatte mir als Preisrichter natürlich quantitativ mehr als nur zwölf Aufgaben (von denen eine noch nebenlösig ausscheiden musste) erwartet, und auch die durchschnittliche Qualität der Aufgaben konnte mich nicht vom Hocker reißen.

Zu Glück ragten zwei oder drei Aufgaben qualitativ heraus, sodass die ersten beiden Plätze sehr schnell für mich feststanden. Das Stück, das ich deutlich ganz vorn sehe, möchte ich euch heute vorstellen; ich orientiere mich dabei an meinem Kommentar im Preisbericht. Das zweitplatzierte Stück werde ich hier in der kommenden Woche zeigen.

Joachim Hambros
11. FIDE World Cup 2023, Preis & Goldmedaille
Beweispartie in 22 Zügen (13+13)

 

Im Diagramm sehen wir 18 schwarze Züge (4+1+3+3+5+2), bleiben vier frei. Schwarz benötigt allerdings zwei weitere Züge, um [Th1] im Südosten zu schlagen, dann stehen ihm noch zwei zur Verfügung, um einen seiner Türme auf b3 zu opfern, womit dann alle schwarzen Züge erklärt sind.

Damit ist auch klar, dass die fehlenden schwarzen Bauern mangels Zugmöglichkeiten zu Hause starben – und dass sBd6 von e7 kommt, damit Dd5 ermöglicht wird.

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Retro der Woche 35/2023

Bei Aufgaben von Thomas Volet kann man sich fast darauf verlassen, dass sie seine Lieblings-Thematik zeigen: Das sind Schirme, also Schachschutz, der benötigt wird, um weitere Züge zurücknehmen zu können, die ansonsten illegales Retroschach bieten würden. Und so ist es auch bei der Aufgabe, die ich heute ausgewählt habe.

Noch etwas ist typisch für den Kompositionsstil von Tom: Er legt keinen besonderen Wert auf möglichst lange eindeutige Folgen von Rücknahme-Zügen (wie wir das etwa im Retro der Woche vor zwei Wochen gesehen hatten); ihm ist es wichtig, dass die thematischen Züge wie Entschläge, wie Schachschutz-Züge eindeutig sind. Wie die Figuren nun auf diese thematischen Felder kommen, interessiert ihn weniger: Wenn dabei Zugumstellungen oder Alternativ-Wege möglich sind, stört ihn das nicht.

Thomas Volet
Orbit 2004, 1. ehrende Erwähnung
Letzter Zug? (13+13)

 

Zunächst einmal sehen wir, dass alle fehlenden Steine durch gegnerische Bauern geschlagen wurden: schwarze Schläge durch axb, dxc unf h7xg6; weiße Schläge durch bxc, e2xf3 und hxg. Beide Parteien können als Schläge zunächst nur hxg zurücknehmen: b2xc3 würde [Lc1] aussperren, und axb4 kann nicht zurückgenommen werden, weil zunächst der Bauer auf a7 zumindest bis a4 zurückgezogen werden muss: Er kam ja schlagfrei von a2.

Dann wollen wir schauen, wie der riesige Knoten im Süden und Westen geöffnet werden kann? Das funktioniert offenbar nur durch R: Kd5-c5. Dafür aber muss erst [Lf8] nach Hause, da spätestens dann e7-e6 zurückgenommen werden muss. Dafür muss aber ein Stein auf d6 das Schach durch diesen Läufer, der also über e7 heimkommen muss, abschirmen.

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Retro der Woche 34/2023

Und noch ein Stück aus der Zeit kurz vor der Jahrtausendwende: Heute eine unscheinbar wirkende Beweispartie von Michel Caillaud, die aber — bei dem Autor nicht anders zu erwarten — mit ein paar Überraschungen aufwartet.

Michel Caillaud
StrateGems 2000, 4. Preis
Beweispartie in 18,5 Zügen (15+15)

 

Betrachten wir das Diagramm, so stellen wir fest, dass die beiden e-Bauern fehlen. „Na ja, der schwarze Bauer wurde im letzten Zug mit Schach geschlagen, und der weiße verschwand irgendwo auf der e-Linie offenbar durch einen der schwarzen Springer!“ Könnte man meinen – und damit läge man reichlich schief! Woran kann man das sehr gut sehen? Dazu sollten wir uns überlegen, was Schwarz eigentlich in der Partie ziehen konnte?

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Retro der Woche 33/2023

Ein klassisches Retro mit der Frage nach den eindeutigen letzten Zügen möchte ich euch noch aus der kleinen feenschach-Parade zeigen.

Diese Aufgabenstellung finde ich auch deswegen so attraktiv, weil da ganz genau klar ist, was gefordert ist, ohne dass erst einmal durch die Forderung schon etwas verraten oder auch verschleiert wird.

Gerald Ettl ist in Deutschland ein besonders aktiver Spezialist für diesen Aufgabentyp – dass er das schon lange ist, zeigt er mit dem heutigen Stück.

Gerald Ettl
feenschach 1999, 1. ehrende Erwähnung
Welches waren die letzten 22 Einzelzüge? (13+12)

 

Zunächst stellen wir fest, dass keiner der Könige im Schach steht, wir also auch herausfinden müssen, wer mit der Rücknahme beginnt. Ferner müssen wir berücksichtigen, dass (mindestens) zwei Umwandlungssteine auf dem Brett stehen: eine weiße Dame und ein schwarzer weißfeldriger Läufer – nämlich der auf h1.

Schwarz benötigt für seine Bauernstruktur alle drei Schläge, sodass die weiße Bilanz ausgeglichen ist. Weiß benötigt zwei Schläge, um den [Ba7] nach a3 oder a2 zu lassen – deswegen kann wBd6 auch nicht der [Bh2] sein. Der hingegen muss sich in die zweite weiße Dame umgewandelt haben, wofür er einen Schlag brauchte. Er musste ja an [Bh7] vorbeikommen. Damit bleibt Weiß noch ein Schlag übrig, den er z.B. nutzen kann, um Schwarz Züge zu ermöglichen.

Damit sind wir dann auch schon bei der Frage nach dem Anzug, nach der generellen Auflöse-Strategie.

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Retro der Woche 32/2023

Natürlich können wir nicht über Retros in feenschach reden, ohne auch experimentelle Märchen-Retros zu betrachten. Ausgesucht habe ich für euch eine Aufgabe von Manfred Rittirsch, die wahrscheinlich erstmals die Nutzung der Märchenbedingung Isardam in einer Beweispartie zeigt. Gut zehn Jahre später würde diese Kombination intensiver untersucht.

Hier die Definition von Isardam aus dem Schwalbe-Lexikon:

„Es sind solche Züge illegal, die dazu führen, dass ein Stein einen gegnerischen Stein der gleichen Art beobachtet. Ein König steht daher nicht im Schach, wenn durch den virtuellen Schlag des Königs ein Stein einen gegnerischen Stein der gleichen Art beobachten oder von einem solchen beobachtet werden würde.“

Das erklärt auch den Namen: Es ist quasi das Gegenteil von Madrasi, wo sich gegnerische Steine gleicher Art, die sich beobachten, lähmen — „Isardam“ ist also „Madrasi rückwärts“.

Manfred Rittirsch
feenschach 1999
Beweispartie in 15 Zügen, Isardam (11+14)

 

Aus meiner Sicht ist diese Aufgabe ganz typisch für viele Erstdarstellungen einer Märchenbedingung mit einer dafür neuen Forderung: Häufig auf einen besonders spektakulären Zug konzentriert — und so ist es hier auch! Ich will schon einmal verraten, dass die ersten 11,5 Züge komplett orthodox sind — als ob dann beim zwölften Zug Schwarz einfiele, dass es doch noch eine Bedingung gebe…

Dennoch hilft uns die Bedingung auch schon vorher für die erste Analyse:

Bei Weiß fehlen drei Bauern, ein Turm und [Lc1]; Schwarz hat aber bereits drei Doppelbauern. Was ist daran so bemerkenswert??

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Retro der Woche 31/2023

Bleiben wir in dieser und den kommenden Wochen noch bei feenschach-Retrobeispielen aus der Zeit der Jahrtausendwende.

feenschach ist dafür bekannt, dass dort auch orthodoxe, aber unkonventionelle Aufgaben gut erscheinen können — „nur“ Märchenschach ist dort trotz des Namens gar nicht erforderlich.

Hier stellt uns Michel Caillaud eine Aufgabe mit sehr ungewöhnlicher Zwillingsbildung vor: Üblich ist ja, entweder mehr als eine Lösung für die gleiche Stellung ohne Änderungen zu fordern, und der Unterschied liegt dann meist schon im ersten Zug — oder halt eine Stellungsänderung.

Michel Caillaud
feenschach 2000
Beweispartie in 15 Zügen, zwei Varianten im 5. weißen Zug (14+14)

 

In dieser Aufgabe haben wir nun den Fall, dass die ersten vier Züge völlig identisch sind, dann quasi zwei Varianten entstehen. In einer Notation, die sich hauptsächlich für Hilfsmatts, aber auch allgemein fürs Hilfsspiel durchgesetzt hat, würde man notieren: 1.1;1.1;1.1;1.1;2.1;1…

Damit wird für jede „Zählstelle“ der einzelnen Züge angegeben, wie viele verschiedene vorgesehen sind: Hier sind es im 5. weißen Zug zwei mögliche, und danach geht es dann eindeutig weiter, das Spiel verzweigt sich dort also.

Interessant wird dann zu beobachten sein, wie sich die beiden Varianten zueinander verhalten, ob es inhaltliche oder formale Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede gibt. Bei Beweispartie-Mehrlingen lässt es sich ja generell nicht vermeiden, dass eine Menge Züge in den Varianten gleich sind. Hier ist das etwa für den Weg des schwarzen Königs und auch des weißen Springers zu erwarten.

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