Retro der Woche 50/2024

Die erste Hälfte der 1990-er Jahre war vielleicht eine (bisher) letzte Hoch-Zeit der klassischen Retroanalyse, bevor sie zunächst von Beweispartien, später dann auch von Märchenretros zumindest quantitativ in den Schatten gestellt wurde. Dass das nicht unbedingt eine Aussage über die Qualität heutiger klassischer Retros ist, zeigt sich immer wieder. Kleine Anregung: Schaut euch noch einmal den letzten Retro-Preisbericht von StrateGems zum Jahr 2022 an.

Der Eindruck eines Höhepunkts um diese Zeit wird vom Blick ins FIDE-Album 1992-1994 gestützt: 23 von (nur) 38 Retros in diesem Album sind orthodox, es folgen 13 Beweispartien und zwei Märchenretros. Auch wenn man die Aussagekraft dieser Gewichtung in Zweifel ziehen kann (zwei der Richter, nämlich André Hazebrouck und Nikita Plaksin, sind dediziert „orthodox“; dritter Richter war Michel Caillaud, Direktor Wolfgang Dittmann), so zeigt das Album natürlich sehr gute klassische Retros; eines davon möchte ich euch heute zeigen.

Thomas Volet
Phénix 1994, 1. Preis
Was war der letzte Schlagzug? (13+11)

 

Bevor wir uns Gedanken um den letzten Schlagfall mach, schauen wir erst einmal, welche Aussagen wir zu Schlagfällen allgemein machen können. Da sehen wir schnell, dass die fehlenden weißen Steine (Dame und die Türme) durch e7xf6 sowie hxg und gx7 verschwanden. Drei Schläge weißer Bauern sind auch sichtbar: e2xf3, fxg und c3xd4.

Dann fällt einem anschließend sofort die Bauernkonstellation auf dem Damenflügel auf.

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Retro der Woche 49/2024

Nach dem Glückwunsch hier an Thierry Le Gleuher zu seinem Geburtstag am letzten Donnerstag möchte ich euch heute eine meiner Lieblings-Beweispartien überhaupt zeigen – ihr ahnt jetzt den Autor sicher schon?!

Bevor ich mit euch zusammen die Aufgabe genauer anschaue, will ich ausnahmsweise vorab das Thema verraten, das für das Turnier gefordert war: „Unsichtbarer Platzwechsel“. Ratet doch einmal, welche zwei Steine diesen Platzwechsel durchführen?

Thierry Le Gleuher
Lois-60-Geburtstagturnier 2007, 1. Preis
Beweispartie in 21 Zügen (14+15)

 

Bei Weiß fehlen die beiden Zentralbauern, bei Schwarz die Dame. Die Bauernstellung verrät recht wenig – sie sagt uns nur, dass auf c6 keiner der beiden fehlenden weißen Bauern geschlagen werden konnte: Wenn, könnte es sowieso nur [Bd2] gewesen sein, der hätte dxD auf der c-Linie spielen müssen. Aber da stand [Bd7] noch zu Hause, also konnte die Dame sich noch nicht „draußen“ opfern. Also muss mindestens ein weißer Bauer umgewandelt haben, um das Schlagopfer auf c6 zu ersetzen – das Phoenix-Thema haben wir also schon erkannt.

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Retro der Woche 48/2024

In der letzten Woche haben wir einen Blick zurück auf die Schwalbe geworfen, haben wir uns eine Aufgabe angeschaut, die dort vor 100 Jahren nachgedruckt wurde. Heute will ich euch eine Aufgabe zeigen, die in der Schwalbe vor 30 Jahren erschienen ist, die dort eine hohe Auszeichnung erhalten hat in einer Zeit, als die eindeutigen Beweispartien zu ihrem Siegeszug durch die Retrowelt angetreten hatten.

Moderne Thematik in schon sehr ausgeklügelter Form, als noch nicht daran zu denken war, so etwas per Computer auf Korrektheit zu prüfen.

Unto Heinonen
Die Schwalbe 1994 2. Preis
Beweispartie in 31,5 Zügen (14+14)

 

Schon beim ersten Hinschauen aufs Diagramm stellen wir fest, dass beide Seiten weit davon entfernt sind, mehr als 30 offensichtliche Züge gemacht zu haben. Also haben wir schnell die Vermutung, dass wir es hier mit Umwandlungen zu tun haben könnten?

Dieser Verdacht wird noch gestärkt, wenn wir sehen, dass beiden Parteien exakt zwei Bauern fehlen und sonst nichts. Zwei Umwandlungen könnten natürlich für eine Menge zusätzlicher, nicht direkt sichtbarer Züge sorgen.

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Retro der Woche 47/2024

Im letzten Retro der Woche hatte ich eine Aufgabe aus diesem Jahr vorgestellt — heute möchte ich genau 100 Jahre zurückspringen.

Bereits in ihrem dritten Heft im Oktober 1924 veröffentlichte Die Schwalbe einen mehr als zweiseitigen Artikel „Einführung in das Retroschach“ von Hans Klüver (4.3.1901–26.2.1989), den vielleicht der eine oder andere, der sich schon länger mit Problemschach befasst, noch von seinen Besuchen beim Andernach-Treffen und seinen dortigen Vorträgen oder Märchenturnieren persönlich kennt.

Allein das ist sicher bemerkenswert, aber auch die Länge des Beitrags, bedenkt man, dass das Heft damals einen Umfang von acht Seiten hatte.

Klüver war mit seinen 23 Jahren schon kein Problem- oder Retro-Greenhorn mehr; er hatte bereits verschiedene und bemerkenswerte Artikel zur Problemtheorie veröffentlicht, etwa seine Beiträge zur „Schnittpunkt-Systematik“ und zu „Schnittpunktphänomene in der retrograden Analyse“, ein 20-seitiger, immer noch lesenswerter Beitrag im Kongressbuch des Schachkongresses von Teplitz-Schönau 1922.

In seinem Schwalbe-Beitrag stellte er neben einem eigenen Urdruck die folgende kurz zuvor erschienene Aufgabe des Rumänen Léon Loewenton (6.1.1889–23.9.1963) vor, die didaktisch wegen ihrer Zwillingsbildung sicherlich gut für solch einen Artikel gewählt war.

Léon Loewenton
Chess Amateur 1924
a) Der weiße K hat gezogen, b) Der weiße K hat nicht gezogen. In welchem Falle kann Weiß in 2 Zügen matt setzen? (13+14)

 

In seinem Artikel geht Klüver speziell auf die Retro-spezifischen Rückzugsweisen: den Entschlag, die Entwandlung, den Entwechsel (so nannte er die Rücknahme der Rochade) und den Entkreuzschlag (Rücknahme eines Schlagens im Vorübergehen) ein.

Den folgenden Teil, in dem er die Lösung des Loewenton-Stücks vorbereitet, möchte ich wörtlich zitieren, ebenso wie seine Darstellung der Lösung, die ich aber wie üblich zunächst „verstecke“:

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Retro der Woche 46/2024

Vor einigen Tagen ist die vierte Ausgabe des Jahrgangs 2024 der niederländischen Problemzeitschrift Probbleemblad erschienen. Die Retro-Abteilung dort wird vom Argentinier Roberto Osorio geleitet, der hier bei den Retros der Woche mit bisher 20 Beweispartien vertreten ist, häufig zusammen mit Jorge Lois, ebenfalls aus Buenos Aires..

Heute allerdings möchte ich ein Stück von Dirk Borst vorstellen, für den eine Veröffentlichung in Probleemblad quasi einem Heimspiel gleicht, ist er doch auch schon Jahrzehnte lang an der Herausgabe des Schwalbe-Schwestermagazins beteiligt.

Dirk Borst
Probleemblad 2024
Beweispartie in 20 Zügen (13+11)

 

„Nur“ zwanzig Züge, dennoch sicherlich nicht ganz leicht zu lösen. Das kann man schnell ahnen, wenn man einfach nur die sichtbaren Züge zählt: Bei Schwarz ist man da fix fertig: 0+0+4+2+1+2=9 – mehr als die Hälfte der Züge ist also noch frei, da nicht sichtbar.

Viel besser schaut es bei Weiß auch nicht aus: 2+2+5+3+3+1=16 – auch bei Weiß sind also noch vier Züge frei. Hilft uns das irgendwie weiter? Zumindest insoweit, dass wir, obgleich bei Weiß genau drei Bauern fehlen, keiner von denen umgewandelt haben kann: Soo schnell sind Bauern ja auch nicht!

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Retro der Woche 45/2024

Nicht nur die Beweispartien, wie wir das beispielsweise im letzten Retro der Woche gesehen hatten, waren in der US-amerikanischen Zeitschrift StrateGems bis zu deren Ende 2022 von exquisiter Qualität, sondern auch die klassischen Retros zeigten hohes Niveau und große thematische Bandbreite.

Das zeigte sich auch im letzten Informalturnier, von dem ich bereits den ersten Preis, ein unglaublicher Illegal-Cluster-Task und den zweiten Preis, ein klassisches Auflöse-Retro, vorgestellt hatte. Das auf Platz drei gelandete Problem ist ein höchst originelles Rebus-Problem, bei dem also aus den angegebenen Buchstaben erst einmal die Stellung rekonstruiert werden muss, bevor die Zusatzfrage beantwortet werden kann. Und, so viel kann ich schon verraten, die Zwillingsfassung hat es in sich!

Nina Omeltschuk, Andrej Frolkin & Jeff Coakley
StrateGems 2022 ‚Reflect‘– 3. Preis
Forderung siehe Text

 

Hier zunächst die Forderung: „Unterschiedliche Buchstaben bedeuten unterschiedliche Steinarten, Groß- und Kleinschreibung bedeuten verschiedene Farben. Bestimme die Stellung und den letzten Zug. – b) horizontal gespiegelt.“

Wie kann man solche Aufgaben lösen? Versuchen wir also, aus den Buchstaben Rückschlüsse auf die Steine zu ziehen. Vielleicht wird zwischendurch schon die Farbverteilung klar, vielleicht auch erst zum Schluss.

Hier ist die Klärung, was Könige und was Bauern sind, recht einfach. Die Bauern sind Cc – nicht etwa, weil gleich sieben Mal „C“ vorkommt, mit solchen “plausiblen” Überlegungen wäret ihr schon bei einigen Rebus-Aufgaben gescheitert! Nein, aber alle anderen Steine stehen mit mindestens einem Exemplar auf der ersten bzw. achten Reihe. Und auch die Könige können wir leicht als Rr identifizieren: Sie sind die einzigen Steine, die je Farbe exakt einmal vorhanden sind.

Nun wird es etwas schwieriger.

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Retro der Woche 44/2024

Die US-amerikanische Zeitschrift StrateGems, herausgegeben von Mike Prcic, musste nach 25 Jahren und exakt 100 Ausgaben zum Ende des Jahres 2022 eingestellt werden. Das war ein Riesenverlust gerade für und Retrofreunde, war die entsprechende Abteilung über die gesamten 25 unter den besten, die die Welt zu bieten hatte.

Aus dem letzten Informalturnier hatte ich bereits den ersten Preis von Silvio Baier bei den orthodoxen Beweispartien vorgestellt; heute möchte ich mit euch das zweitplatzierte Stück betrachten.

Michel Caillaud
StrateGems 2022 – Ein Dankeschön an Mike Prcic, 2. Preis
Beweispartie in 30 Zügen (15+15)

 

Leicht zu sehen, dass bei Weiß genau ein Turm fehlt; die schwarze Bauernstellung verrät aber nichts über ein mögliches Schlagfeld. Bei Schwarz fehlt im Diagramm ein Bauer: Entweder wurde [Bf7] auf f3 geschlagen — dann starb der weiße Turn irgendwo auch der f-Linie, vom [Bg7] geschlagen, oder ein Offizier hat sich auf f3 geopfert und [Bg7] den durch Umwandlung ersetzt. In diesem Fall können wir wieder noch nichts über das Sterbefeld des weißen Turms aussagen.

Versuchen wir einmal, die schwarzen Züge zu zählen: Dabei kommen wir auf 3+2+5+8+5+5=28. Bei König und den Türmen bin ich von der langen Rochade ausgegangen: Egal, welcher Turm auf c7, welcher auf h3 steht, beide brauchten zwei bzw. drei Züge dorthin — nach c7 unabhängig davon, ob lang rochiert wurde oder nicht. Die Rochade allerdings spart einen schwarzen Königszug.

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Retro der Woche 43/2024

„Orthorekonstruktionen“ (Definition nach kunstschach in begriffen: “Es ist eine Zugfolge zu finden, in der beide Seiten kooperieren, und die zur Diagrammstellung führt mit dem Unterschied, dass nun die andere Partei am Zuge ist.”) tummeln sich in einer Grauzone zwischen Retroanalyse, wirft man einen Blick auf die Stellungen, Schachmathematik und Konstruktion – in der Schwalbe laufen diese Aufgaben meist unter „Sonstiges“. Ein besonders spannendes (und auch schwer zu lösendes) Stück habe ich für heute herausgesucht. Bei der Besprechung mache ich es mir heute recht einfach, ich übernehme fast unverändert den Kommentar aus dem Preisbericht von Hans Gruber (264 Die Schwalbe XII/2013); besser könnte ich das Stück auch nicht präsentieren!

Nikolai Beluchow
Die Schwalbe 2012, 1. Preis
Entferne zwei schwarze Figuren (keine Bauern) für eine Ortho-Rekonstruktion mit Schwarz am Zug (14+15)

 

Alle (8 über 2) = 28 paarweisen Entfernungen schwarzer Offiziere (ohne den sK) führen zu legalen Stellungen. Davon erfordern zehn einen Schlag in einem der nächsten beiden Einzelzüge. Alle anderen 18 sind funktionierende Verschiebebahnhöfe mit viel Freiraum.
Nach Entfernen der zwei schwarzen Offiziere befinden sich zehn Objekte (zwei leere Felder, ein weißer Springer und sieben schwarze Offiziere) in dem Käfig c8, d8, e8, f8, g8, c7, e7, g7, h7, h6.
Für eine Orthorekonstruktion ist eine ungeradzahlige Permutation notwendig (jeder Einzelzug transponiert ein leeres Feld und einen Stein, also zwei Einheiten), sodass sich Diagramm- und Schlussstellung nicht unterscheiden. Dafür muss ein Paar ununterscheidbarer Objekte vertauscht werden.
Hierfür kommen nicht die schwarzen Springer infrage, da keiner das Standfeld des jeweils anderen erreichen kann.
Die schwarzfeldrigen schwarzen Läufer können es auch nicht sein, da es entlang des Korridors c7-d8-e7-f8-g7-h6 kein Aneinandervorbei gibt.
Die schwarzen Türme können ihre Plätze tauschen, wenn einer auf e7 wartet, während der andere von d8 via e8 nach f8 (oder umgekehrt) zieht. Ein sTe7 erfordert die Oszillation des weißen Springers auf g8-h6, was eines der freien Felder bindet. Für die Durchführung des Turmmanövers muss das andere freie Feld von d8 nach f8 transponiert werden, während die beiden schwarzen Türme auf e7 und e8 eine Mauer bilden. Das geht nicht!

Jetzt ist guter Rat teuer … !

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