Retro der Woche 02/2024

In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre begann die Blütezeit der eindeutigen Beweispartien, die heute einen qualitativ und quantitativ bedeutenden Teil der Retro-Aufgaben bilden. Eine hervorragende Dokumentation der Zeit bis etwa 1990 ist Wilts, Gerd und Frolkin, Andrej: Shortest Proof Games. The Rubic’s Cube of a Chess Player. A collection of more than 160 Shortest Proof Games. Karlsruhe: Selbstverlag 1991 — immer noch sehr zu empfehlen!

Dort findet sich als Nr. 49 auch unsere heutige Aufgabe zweier bedeutender Beweispartie-Pioniere, wobei Andrej ja auch 40 Jahre später noch aktiv.

Dmitri Pronkin & Andrej Frolkin
Themes-64 1984, 3. ehrende Erwähnung
Beweispartie in 17,5 Zügen (14+15)

 

Schauen wir zunächst nach den fehlenden Steinen: Bei Weiß fehlt [Be2] sowie ein Turm, der c6 geschlagen wurde, bei Schwarz ist [Lc8] verschwunden.

Und dann machen wir uns Gedanken um die Zugreihenfolge, zumindest in Teilen. Besonders interessant hierfür ist der Südwesten mit wTa2 und sSa1. Beide weißen Türme können in drei Zügen nach c6 gelangen (Ta1-a3-c3-c6 bzw. Th1-e1-e6-c6) – das scheint für Th1 zu sprechen, da dann der ungeschlagene Turm nur einen Zug benötigt. Der Springer muss bereits auf a1 stehen, bevor Bb3 gespielt werden kann, was gleichzeitig [Lc1] befreit. Somit kann nicht Th1-a1-a2 erfolgt sein, sondern [Th1] benötigt drei Züge nach a2 (Th1-b1-b2-a2), also zwei mehr.

Weiterlesen

Retro der Woche 01/2024

Um den Jahreswechsel 1923/1924 herum gab es zwei unabhängige, aber dennoch eng zusammenhängende Retro-Erfindungen, die heute beide unter dem Namen „Verteidigungsrückzüger“ bekannt sind. Erstmals hat damit die Retroanalyse das reine Hilfsspiel verlassen und Verteidigungsideen einbezogen. Wolfgang Dittmann beschrieb dies in seinem „Der Blick zurück“ (S. 55) so:

Niels Høeg und Zeno Proca kamen unabhängig voneinander auf die Idee, dass das Element der Strategie, das schon dem synthetischen Hilfsrückzüger eigen war, durch ein Gegenspiel von Schwarz noch außerordentlich verstärkt werden könnte. Die geforderten Zugrücknahmen beider Seiten sollten nun gegen den Willen von Schwarz (!) zu einer Stellung führen, in der Weiß ein Vorwärtsziel (meist Matt in 1 Zug) erreichen kann. Das war sehr ungewohnt; das gewaltige strategische Potential, das der Verteidigungsrückzüger für die Welt der Retroanalyse bereitstellte, ist wiederum erst viel später erkannt und schrittweise ausgeschöpft worden … Die nach den Erfindern benannten beiden Typen des Verteidigungsrückzügers, die ansonsten übereinstimmen, unterscheiden sich nur in Bezug auf die Seite, die bei einer Zug-Rücknahme Faktum und Art eines Entschlages bestimmt; beim Typ Høeg entscheidet dies der Gegner, beim Typ Proca derjenige, der den Zug zurücknimmt.“

Ein frühes Stück von Thomas Rayner Dawson, der dem Høeg-Typ wegen dessen vielfältigen Möglichkeiten zur Variantenbildung besonders zugetan war, möchte ich euch heute vorstellen.

Thomas R. Dawson
The Chess Amateur 1924, Niels Høeg gewidmet
#1 vor 2 Zügen, VRZ Høeg (11+12)

 

Bei der Lösungsangabe habe ich mich eng an der englisch-sprachigen von Henrik Juel in der PDB orientiert.

Die schwarzen Bauern haben alle fünf fehlenden weißen Figuren geschlagen, bei Schwarz fehlen TLLS, von denen drei von weißen Bauern (axb, fxe, h5xg6) und der verbleibende von einem weißen Offizier geschlagen wurden.

Weiterlesen

Retro der Woche 52/2023

In drei Teilen hatte Silvio Baier sich in den Heften 318-2 bis 320 der Schwalbe (Dezember 2022 bis April 2023) mit der Themenkombination “Je zwei Ceriani-Frolkins und Pronkins” in orthodoxen Beweispartien beschäftigt und uns 73 Beispiele vorgestellt. Nr. 1 aus dieser Reihe hatte ich im Retro der Woche 48/2022 bereits vorgestellt.

Nun möchte ich euch den Tipp geben, die Serie über die Feiertage noch einmal hervorzuholen, noch einmal zu lesen, zu genießen — durchzuarbeiten.

Bei gemischtfarbiger Darstellung des Themas bietet sich “2+2” bei der Farbverteilung an (eine “3+1” ist mir heute bei der Vorbereitung nicht eingefallen), und da kann ich erst einmal mit 2+2 Figurenarten spielen (4 ergäben natürlich eine Allumwandlung), und auch da gibt es prinzipiell verschiedene Möglichkeiten. Eine diese Möglichkeiten ist in Silvios Beitrag nur mit einem einzigen Beispiel vertreten, und dieses möchte ich euch heute vorstellen.

Silvio Baier
69 Die Schwalbe IV/2023
Beweispartie in 27 Zügen (13+14)

 

Zählen wir wie üblich die im Diagramm sichtbaren Züge, kommen wir “nur” auf jeweils acht — das ist erschreckend wenig: Bei insgesamt 27 Zügen sind für beide Parteien also noch 19!! Züge frei. Auch wenn wir das Thema nicht kennen würden, kämen wir wahrscheinlich sofort auf den Gedanken, dass wir hier jeweils zwei Umwandlungen im Lösungsverlauf antreffen werden.

Diese Überlegung wird noch durch die Bauernstruktur unterstützt: Alle fehlenden Steine wurden von Bauern geschlagen — Schlagopfer können aber keine Bauern selbst gewesen sein, da die fehlenden weißen nicht auf der f- oder h-Linie geschlagen worden sein können, und die fehlenden schwarzen können ebenso wenig auf der b- oder c-Linie geschlagen worden sein.

Weiterlesen

Retro der Woche 51/2023

Hatten wir uns vor zwei Wochen noch ein Auflöse-Retro mit der Märchenbedingung „Madrasi“ angeschaut, so möchte ich euch heute mal wieder ein klassisch-orthodoxes vorstellen. Obwohl – eine nicht so ganz klassische Besonderheit hat auch das heutige Stück …

Nikolai Beluchow & Andrej Frolkin
StrateGems 2010, 2. Preis
Letzter Zug? Zwei Lösungen (10+13)

 

Das ist schon ungewöhnlich: Ein Retro mit mehreren Lösungen – und die entstehen auch nicht durch Steinversetzung oder Änderung der Forderung. Im Hilfsmatt ist das heute selbstverständlich, dass mehrere Lösungen in einer Stellung vorhanden sein können, das erscheint vielen sogar eleganter als eine Zwillingsbildung etwa durch Steinversetzung.

Aber das war im Hilfsmatt nicht immer so: Der berühmte ungarische Hilfsmattkomponist und -fachmann György Páros lehnte in seinen jungen Jahren mehrere Lösungen ab, sein Credo: „Ein Hilfsmatt kann nur eine Lösung haben, hat es mehr, sind das Nebenlösungen.“ Er akzeptierte für mehr als eine Lösung also nur Satzspiel und Stellungsveränderungen; erst nach dem 2. Weltkrieg setzte sich langsam der heutige Geschmack durch.

Die Frage ist nun: Haber wir es hier mit einer „kultivierten Nebenlösung“ zu tun – oder mit zwei gleichwertigen, inhaltlich verbundenen? Das solltet ihr am Schluss für euch selbst beurteilen.

Weiterlesen

Retro der Woche 50/2023

Vorgestern habe ich es bei den Glückwünschen zum runden Geburtstag von Roberto Osorio ja bereits angekündigt: Heute möchte ich eine weitere Beweispartie von ihm vorstellen.

Roberto Osorio
Orbit 2011, 2. Preis
Beweispartie in 18 Zügen (12+15)

 

Das schaut doch gar nicht so kompliziert aus: Weiß muss nur versuchen, seine vier fehlenden Bauern loszuwerden. Aber wir werden sehen: Soo einfach ist das gar nicht, dafür ziemlich überraschend und wie ich finde sehr gefällig!

Beginnen wir wie üblich mit den fehlenden Steinen und deren Anfangsposition. Dass die vier fehlenden weißen Bauern ursprünglich von a, b, g und h stammen, ist nicht sehr schwer zu erkennen. Auch bei Schwarz sind noch alle Offiziere an Bord; hier fehlt nur ein Bauer, der von a oder von b stammt.

Nun versuchen wir, die offensichtlichen Züge zu zählen: Bei Weiß sind wir damit sehr schnell fertig, und auch bei Schwarz ist das nicht allzu schwer:

Weiterlesen

Retro der Woche 49/2023

„Klassische“ Auflöse-Retros mit Märchenbedingungen sind relativ selten: Sind sie doch häufig sehr kompliziert zu bauen, korrekt zu bekommen und auch zu lösen. Ein solches Stück möchte ich euch heute zeigen, dessen Entstehen übrigens eng mit der ersten beschriebenen Schwierigkeit zusammenhängt.

Das Stück verwendet die Madrasi Bedingung, ihr erinnert euch sicherlich? Ein Stein, der von einem gleichartigen Stein der anderen Farbe (außer den Königen, wenn nicht rex includive sie auch in die Regel einbezieht) beobachtet wird, ist paralysiert (man sagt auch „gelähmt“), d.h. er kann weder ziehen noch schlagen (und damit auch nicht Schach bieten), sondern nur paralysieren.

Nikita Plaksin, Andrej Kornilow & Hans Gruber
feenschach 1989, 3. Preis
Letzte neun Einzelzüge? Madrasi (14+8)

 

Im Diagramm ist der letzte Zug recht einfach zu finden: Der schwarze König steht im Schach durch den weißen Läufer, der aber im letzten Zug dort selbst nicht hingezogen haben kann. Das Schach kann also nur entstanden sein, wenn Weiß in seinem letzten Zug die Paralyse des wLg7 aufhebt.

Das kann offensichtlich nur durch Schlag eines schwarzen Läufers auf f6 geschehen sein. Und der schlagende Bauer kann nicht von g5 gekommen sein, denn dort wäre er ja durch sBh6 paralysiert gewesen, also muss der letzte Zug R Be5xLf6+ gewesen sein.

Weiterlesen

Retro der Woche 48/2023

Einer meiner Lieblings-Beweispartiekomponisten ist der Japaner Satoshi Hashimoto (Jahrgang 1957): Er ist mit seinen Lösungen immer wieder für Überraschungen gut; sehr versteckt zeigt er stets interessante Inhalte und Strategie. Wenn ihr euch einen schönen Beweispartie-Abend machen wollt, spielt einfach seine Aufgaben hier im Blog durch — aber nehmt euch vorher ein wenig Zeit, um zumindest erste Analysen zur Stellung anzustellen, eine begründete Vermutung über die Thematik und Lösungsstrategie aufzustellen.

Satoshi Hashimoto
Die Schwalbe 2001, 3. ehrende Erwähnung
Beweispartie in 18 Zügen (13+16)

 

Nur zwei schwarze Züge sind im Diagramm zu sehen, und auch bei Weiß sind es nicht annähernd genug, um die geforderte Zügezahl zu erreichen; hier sehen wir 2+2+0+3+1+1=9 — gerade einmal die Hälfte der gespielten Züge! Wie können wir uns trotzdem der Lösung nähern?

Da schauen wir uns zunächst an, welche weißen Steine denn fehlen Das sind die drei Bauern [Bc2], [Bf2] und [Bg2]. Weiß konnte selbst nicht schlagen, da Schwarz noch “alle Mann an Bord” hat, gleichzeitig gab es zwei Bauernschläge durch Schwarz. Daraus können wir schon eine Menge Schlussfolgerungen ziehen:
Es ist leicht zu sehen, dass [Bf2] auf f6 geschlagen wurde. Ebenso sehen wir schnell ein, dass [Bc2] auf der c-Linie sterben musste. Wie konnte aber [Bg2] verschwinden?

Weiterlesen

Retro der Woche 47/2023

Wir verbinden die Kompositionen von bernd ellinghoven, der Anfang dieser Woche verstorben ist, meist mit Märchenschachaufgaben oder längeren Hilfsmatts, in denen er sich, häufig zusammen mit Fadil Abdurahmanović, um Darstellung neudeutscher Ideen bemüht hat — die von bernd so genannte “Hilfsmatt-Revolution”.

Aber er war auch ein großer Freund der Retroanalyse, bewunderte etwa das Werk von Wolfgang Dittmann, wie man in seinem Kommentaren zu dessen “Der Blick zurück” nachlesen kann. Selten kam er allerdings zum Komponieren von Retros — meist zusammen mit Co-Autoren. Eines dieser Ergebnisse, das wesentlich Märchenschachelemente enthält, möchte ich euch heute zeigen.

bernd ellinghoven & Hans Peter Rehm
Messigny 2002, O. Ronat gewidmet, Ehrende Erwähnung
h#2 b) sLe4 nach d4 — Elsässisches Anticirce (3+15)

 

Wir erinnern uns: Bei Anticirce verschwindet das Schlagobjekt, der Schläger wird circensich wiedergeboren. Allerdings muss sein Wiedergeburtsfeld frei sein, ansonsten ist der Schlag nicht zulässig.

Das Attribut “elsässisch” bringt nun den Retroaspekt ins Spiel: bei “elsässischen” Aufgaben muss jede Stellung nicht nur gemäß der Märchenbedingung(en) legal sein, sondern auch gemäß der orthodoxen Regeln. Und das führt häufig zu spanenden Lösungen, in denen ansonsten mögliche Züge an der orthodoxen Legalität scheitern. Und das werden wir natürlich auch hier erleben.

Weiterlesen