Retro der Woche 50/2013

Manchmal sind anfangs kompliziert ausschauende Retros gar nicht so schwer zu lösen; ich glaube, das heutige Stück ist hierfür ein gutes Beispiel, dass dennoch interessanter und origineller Inhalt gezeigt werden kann.

Ich empfehle diese Aufgabe also ausdrücklich zum Selbst-Lösen!

Dmitri Baibikov
1. FIDE-Turnier 2010, Spezialpreis
Löse die Stellung auf (12+14)

 

Offensichtlich muss wegen des Schachgebots gegen den schwarzen König Weiß mit der Rücknahme beginnen, und dieser Zug war Tc5xXd5+. Darüber hinaus hat es nur einen weißen Schlag gegeben: fxe, womit alle fehlenden schwarzen Steine erklärt sind.

Bei Schwarz erkennen wir vier Schläge (b4xc3, a5xb4, gxf und h5xg4), die auch alle weißen fehlenden Steine erklären. Bei Weiß fehlen [wBa2] und [wBh2], die nicht direkt von den schwarzen Bauern geschlagen werden konnten und daher, da alle weißen Schlagfälle bereits erklärt sind, auf a8 bzw. h8 schlagfrei umgewandelt haben müssen.

Erst nach deren Entwandlung kann Schwarz dann Bh5xXg4 bzw. Ba5xXb4 zurücknehmen und damit den massiven Retroknoten auflösen.

Schwarz kann also noch nicht entschlagen und kann im Moment quasi nur mit dem sLf8 ziehen, besser gesagt zwischen h6 und f8 pendeln; den verdächtigen Zug e6-e5 sollten wir vorsichtshalber nicht sofort verschenken: Vielleicht brauchen wir den noch einmal?!

Weiterlesen

Retro der Woche 47/2013

In einem Kommentar zum letzten Retro der Woche sprach Urs das Thema „Schwierigkeit als Qualitätsmerkmal einer Schachaufgabe“ an. Ich möchte dazu meine eigene Ansicht zur Diskussion stellen und an einem Beispiel erläutern.

Für mich persönlich ist Schwierigkeit der Lösung kein besonderes Kriterium für die Beurteilung einer Aufgabe, egal, ob es sich um ein Retrostück oder eins mit konventionellem Spiel handelt. Schwierigkeit ist extrem subjektiv: Ein Lösegroßmeister dürfte dort völlig andere Maßstäbe ansetzen als ein Anfänger, für jemanden, der sein Leben lang Zwei- und Dreizüger gelöst hat, ist vielleicht ein „einfaches“ Hilfsmatt schwer zu lösen. Und der subjektive Eindruck hängt auch von der Tagesform ab: An einem Tag klappt es besser mit dem Lösen als an einem anderen.

Dennoch sollte ein Schachproblem ein „Problem“ bleiben: wenn ich sofort und ohne Mühe die Lösung einer Aufgabe sehe, bin ich selten vom Inhalt begeistert, da er ja offensichtlich nicht überraschend, nicht „problemhaft“ ist?! Andererseits bin ich auch nicht glücklich, wenn ich nach langen Mühen ein Stück gelöst habe und ich mich anschließend frage: „Und was soll das nun?“, wenn also die Schwierigkeit auch daher kommt, dass quasi kein problemschachlicher Inhalt geboten wird. Schwierigkeit und Inhalt müssen also für mich in einem passenden Verhältnis zueinander stehen – was auch immer das bedeuten mag.

Wer schreibt also einmal einen Aufsatz zur „Schwierigkeits-Ökonomie“?

Vielleicht kann ich dies einmal an einem wie ich finde hübschen Beispiel erläutern:

 

Nikolai Beluchow
StrateGems 2010
Letzter Zug? (14+13)

 

Bei Weiß fehlen nur der [wBf2] und der [wBh2] – beide konnten wegen der schwarzen Bauernstruktur nicht direkt geschlagen werden, mussten also umwandeln: Schwarz hat fxe und exd gespielt, also muss der weiße Bauer auf a7 zweimal um den sBa5 herum geschlagen haben. Als weiterer weißer Schlag bleibt nur noch hxg, damit der h-Bauer sich auf g8 umwandeln konnte.

Den Käfig im Nordwesten (und anschließend dann den im Südwesten) kann man erst durch f6xXe5 öffnen, aber vorher muss sich ein weißer Stein auf f8 entwandelt haben.

Nichts leichter als das?

Weiterlesen

Retro der Woche 42/2013

Interessant finde ich Aufgaben, bei denen die Forderung mit der Ergänzung von Material zu tun hat. Ziemlich populär sind Illegal Clusters, die ich im Retro der Woche 48/2012 bereits vorgestellt habe: Dort geht es um das Einfügen von Material zu einer illegalen Stellung, die durch Entfernen eines jeden Steins (außer den Königen) legal wird.

Sehr attraktiv sind auch Aufgaben mit der einfachen Forderung „Füge ein“ – hierbei muss dann eine legale Stellung erreicht werden. Unterscheiden kann man hierbei durch die Angabe von Anzahl, Steinen, Farbe oder Feldern: Je weniger Angaben erforderlich sind, umso interessanter sind meist die Aufgaben.

Ein relativ einfach zu lösendes, aber wie ich finde sehr hübsches Beispiel für diese Aufgabenart möchte ich heute vorstellen:

Werner Keym
Economy Records in ‘Add Unit(s)’ Problems 21.8.2011
Ergänze einen Stein (11+1)

 

Weder Stein noch Farbe noch Einsetzungsfeld ist angegeben, also sollten wir zunächst einmal die Stellung genauer betrachten, um vielleicht ein paar Hinweis daraus abzuleiten, wie wir die Einsetzungsmöglichkeiten einschränken können.

Weiterlesen

Retro der Woche 37/2013

Luigi Ceriani (23.1.1894 — 8.10.1969) war einer der besten und produktivsten Retro-Komponisten des vorigen Jahrhunderts, und seine beide Bücher 32 personaggi e un autore (1955) und La genesi delle posizioni (1961) gehören für mich neben Dawson/Hundsdorfers Retrograde Analysis (1915) und Dittmanns Der Blick zurück (2006) zu den absoluten Klassikern der Retroanalyse-Literatur, all diese Werke verdienen eine uneingeschränkte Lese-Empfehlung.

Ein Beispiel sei heute von ihm vorgestellt — besonders das erstgenannte Buch kann man einfach aufschlagen, und man findet eine interessante Aufgabe.

Luigi Ceriani
32 personaggi e 1 autore 1955, Nr. 91
Öffne den Südkäfig (13+12)

Ceriani liebte es, seine Forderung sehr beschreibend darzustellen; heute ist mehr “Löse die Stellung auf” üblich (und so findet sich die Aufgabe auch in der PDB), aber er schrieb unter das Diagramm “aprire la gabbia Sud”, und das habe ich hier übernommen.

Der Südosten kann erst befreit werden, wenn der sLe1 hinaus kann, dafür fehlen im Moment aber noch die Voraussetzungen, nämlich dass der sKd2 nach d1 zurückziehen kann.

Gleichzeitig sind in der Diagrammstellung sofort beide Parteien in Zugnot: Schwarz kann nur a7-a6 und e7xXf6 zurüchnehmen (d7-d6 scheidet aus, da es den Originalläufer auf h1 aussperren würde), und Weiß hat gar keinen Rückzug, denn h3-h4 würde entweder den wLh2 oder den sKd2 abklemmen.

Damit ist auch schon die Frage beantwortet, welche Seite mit der Rücknahme beginnen muss: Schwarz, und zwar mit e7xXf6.
Weiterlesen

Retro der Woche 36/2013

Bei “Vorwärts-Aufgaben” wird oft großer Wert auf einen Schlüsselzug gelegt, der möglichst versteckt ist: Klar, bei einem Zweizüger bleiben nicht viele weitere Möglichkeiten, dem Löser Schwierigkeiten zu bereiten (“Probleme zu schaffen”) bei seinem Versuch, sich selbst die Aufgabe zu erschließen.

Anders schaut dies häufig bei Retros aus: Bei Auflöse-Aufgaben ist ein offensichtlicher letzter Zug nicht unbedingt ein Makel, sondern häufig als technisches Mittel erforderlich, um die Partei zu definieren, die in der Stellung am Zug ist. Die Schwierigkeit und auch der eigentliche Inhalt der Aufgabe ergibt sich halt nicht aus der ersten Zugrücknahme, sondern aus der weiteren Auflösung.

So auch bei dem Stück, das ich euch heute vorstellen möchte: Der letzte Zug ist sehr leicht, quasi sofort zu sehen, aber das ist nicht schlimm.

Michel Caillaud
Die Schwalbe 2006, 2. Preis (Werner Keym gewidmet)
Löse die Stellung auf (16+7)

 

Dass Schwarz zuletzt gezogen hat, ist durch das Schach gegen den weißen König offensichtlich, das Schachgebot ist nur durch 1.– Lc3-h8+ zu erklären. Dabei kann der Läufer auf h8 nicht geschlagen haben, da Weiß noch über all seine 16 Steine verfügt.

Wenn wir diesen Zug zurücknehmen, sehen wir allerdings schnell, dass Schwarz nun über keine Retrozüge mehr verfügt, Weiß muss also Schwarz Züge ermöglichen, um das drohende  Retropatt des Schwarzen zu vermeiden, erst dann kann er sich konkrete Gedanken um die Auflösung des Käfigs im Süden machen.

Zur Auflösung muss Weiß den fehlenden schwarzen Springer auf b2 entschlagen, damit der auf d1 Schachschutz geben kann für die Rücknahme von De1-e2.
Weiterlesen

Retro der Woche 34/2013

Das ukrainisch-spanische Tandem Frolkin und Crusats hat in den letzten Jahren häufig und fruchtbar bei der Komposition klassischer Retros zusammengearbeitet. Eines der jüngsten Ergebnisse wurde im letzten feenschach-Heft des Jahres 2012 veröffentlicht und hat mir sehr gut gefallen, weil es nämlich so herrlich paradox ist.

Andrej Frolkin & Joaquim Crusats
10610 feenschach XI-XII 2012
Löse auf (13+9)

Sofort fällt ins Auge, dass Weiß über (mindestens) drei Umwandlungsfiguren verfügt, da sich bereits vier weiße Türme und drei weiße Springer auf dem Brett befinden. Ebenso bemerken wir schnell, dass Weiß mit der Rücknahme beginnen und dabei einen schwarzen Stein entschlagen muss, denn anders ist das Schach auf g6 nicht aufzuheben.
Weiterlesen

Retro der Woche 28/2013

StrateGems ist üblicherweise nicht nur sehr pünktlich (das aktuelle Juli-Septemberheft 2013 hatte ich am 1. Juli im Briefkasten), sondern auch sehr schnell mit seinen Preisberichten: So enhtält dieses Heft nicht nur den Retro-Preisbericht von 2010 (1. Preis an Günther Weeth mit einem großartigen AC-Proca, Richter: Gerd Wilts), sondern auch schon der Retro-Preisbericht des Jahres 2012!! Richter war hier Henrik Juel.

Der erste Preis ging an ein sehr schönes klassisches Retro:

Nikolai Beluchow & Andrej Frolkin
R0191 StrateGems 2012, Michel Caillaud gewidmet
Löse auf (15+14)

 

Der riesige Retroknoten im Westen und Norden kann nur nach der Rücknahme von e2xd3 aufgelöst werden; beginnen wir also mit der Inventur: Wegen der im Diagramm fehlenden Bauern auf der h-Linie muss dort bzw. auf der g-Linie irgendetwas geschlagen worden sein. Bei der Klärung dieser Frage hilft nun, dass Schwarz über zwei weißfeldrige Läufer verfügt; einer muss also durch Umwandlung entstanden sein. Und diese Umwandlung konnte nur auf h1 erfolgen.

Weiterlesen

Retro der Woche 27/2013

Wenn wir hier im Blog bisher über Verteidigungsrückzüger gesprochen haben, dann quasi ausschließlich über den Typ Proca: Hier entscheidet die zurück nehmende Partei über die Art eines möglichen Entschlags.

Im Typ Høeg, der etwa gleichzeitig mit dem Proca-Typ etwa 1923/24 entstanden ist, entscheidet die Gegenseite über die Art eines möglichen Entschlages; in beiden Fällen müssen solche entschläge selbstverständlich wieder zu legalen Stellungen führen.

Der große Thomas R. Dawson meinte, der Høeg-Typ sei logischer und für Probleme besser geeignet als der Proca-Typ, doch nachdem beide Typen gut 50 Jahre mehr oder weniger im Dornröschenschlaf verbracht hatten, begannen in den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts mehrere Komponisten, sich intensiver mit dem Proca-Typ zu beschäftigen; hier muss ganz besonders Wolfgang Dittmann erwähnt werden, aber auch Nikita Plaksin.

Im Wolfgang-Dittmann-Geburtstagsturnier sind nun Vertreidigungsrückzüger (VRZ) mit logischem Inhalt gefordert; explizit beschränkt dies sich nicht auf den Typ Proca. Darum möchte ich hier und heute einen Høeg-VRZ vorstellen, der trotz der Zuglänge nicht allzu schwer zu durchschauen ist:

Per Grevlund
feenschach 1974, 1. ehrende Erwähnung
#1 vor 7 Zügen, VRZ Høeg (4+3)

Zieht wSh8 beliebig, so kann Schwarz auf h8 z.B. eine schwarze Dame entschlagen und damit seine Verteidigungskräfte signifikant stärken. Andererseits darf auch Schwarz nicht einfach seinen Springer ziehen, denn dann reagiert Weiß ebenfalls mit dem Entschlag einer Dame und setzt damit dann sofort matt.
Weiterlesen