Retro der Woche 49/2024

Nach dem Glückwunsch hier an Thierry Le Gleuher zu seinem Geburtstag am letzten Donnerstag möchte ich euch heute eine meiner Lieblings-Beweispartien überhaupt zeigen – ihr ahnt jetzt den Autor sicher schon?!

Bevor ich mit euch zusammen die Aufgabe genauer anschaue, will ich ausnahmsweise vorab das Thema verraten, das für das Turnier gefordert war: „Unsichtbarer Platzwechsel“. Ratet doch einmal, welche zwei Steine diesen Platzwechsel durchführen?

Thierry Le Gleuher
Lois-60-Geburtstagturnier 2007, 1. Preis
Beweispartie in 21 Zügen (14+15)

 

Bei Weiß fehlen die beiden Zentralbauern, bei Schwarz die Dame. Die Bauernstellung verrät recht wenig – sie sagt uns nur, dass auf c6 keiner der beiden fehlenden weißen Bauern geschlagen werden konnte: Wenn, könnte es sowieso nur [Bd2] gewesen sein, der hätte dxD auf der c-Linie spielen müssen. Aber da stand [Bd7] noch zu Hause, also konnte die Dame sich noch nicht „draußen“ opfern. Also muss mindestens ein weißer Bauer umgewandelt haben, um das Schlagopfer auf c6 zu ersetzen – das Phoenix-Thema haben wir also schon erkannt.

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Retro der Woche 47/2024

Im letzten Retro der Woche hatte ich eine Aufgabe aus diesem Jahr vorgestellt — heute möchte ich genau 100 Jahre zurückspringen.

Bereits in ihrem dritten Heft im Oktober 1924 veröffentlichte Die Schwalbe einen mehr als zweiseitigen Artikel „Einführung in das Retroschach“ von Hans Klüver (4.3.1901–26.2.1989), den vielleicht der eine oder andere, der sich schon länger mit Problemschach befasst, noch von seinen Besuchen beim Andernach-Treffen und seinen dortigen Vorträgen oder Märchenturnieren persönlich kennt.

Allein das ist sicher bemerkenswert, aber auch die Länge des Beitrags, bedenkt man, dass das Heft damals einen Umfang von acht Seiten hatte.

Klüver war mit seinen 23 Jahren schon kein Problem- oder Retro-Greenhorn mehr; er hatte bereits verschiedene und bemerkenswerte Artikel zur Problemtheorie veröffentlicht, etwa seine Beiträge zur „Schnittpunkt-Systematik“ und zu „Schnittpunktphänomene in der retrograden Analyse“, ein 20-seitiger, immer noch lesenswerter Beitrag im Kongressbuch des Schachkongresses von Teplitz-Schönau 1922.

In seinem Schwalbe-Beitrag stellte er neben einem eigenen Urdruck die folgende kurz zuvor erschienene Aufgabe des Rumänen Léon Loewenton (6.1.1889–23.9.1963) vor, die didaktisch wegen ihrer Zwillingsbildung sicherlich gut für solch einen Artikel gewählt war.

Léon Loewenton
Chess Amateur 1924
a) Der weiße K hat gezogen, b) Der weiße K hat nicht gezogen. In welchem Falle kann Weiß in 2 Zügen matt setzen? (13+14)

 

In seinem Artikel geht Klüver speziell auf die Retro-spezifischen Rückzugsweisen: den Entschlag, die Entwandlung, den Entwechsel (so nannte er die Rücknahme der Rochade) und den Entkreuzschlag (Rücknahme eines Schlagens im Vorübergehen) ein.

Den folgenden Teil, in dem er die Lösung des Loewenton-Stücks vorbereitet, möchte ich wörtlich zitieren, ebenso wie seine Darstellung der Lösung, die ich aber wie üblich zunächst „verstecke“:

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Retro der Woche 45/2024

Nicht nur die Beweispartien, wie wir das beispielsweise im letzten Retro der Woche gesehen hatten, waren in der US-amerikanischen Zeitschrift StrateGems bis zu deren Ende 2022 von exquisiter Qualität, sondern auch die klassischen Retros zeigten hohes Niveau und große thematische Bandbreite.

Das zeigte sich auch im letzten Informalturnier, von dem ich bereits den ersten Preis, ein unglaublicher Illegal-Cluster-Task und den zweiten Preis, ein klassisches Auflöse-Retro, vorgestellt hatte. Das auf Platz drei gelandete Problem ist ein höchst originelles Rebus-Problem, bei dem also aus den angegebenen Buchstaben erst einmal die Stellung rekonstruiert werden muss, bevor die Zusatzfrage beantwortet werden kann. Und, so viel kann ich schon verraten, die Zwillingsfassung hat es in sich!

Nina Omeltschuk, Andrej Frolkin & Jeff Coakley
StrateGems 2022 ‚Reflect‘– 3. Preis
Forderung siehe Text

 

Hier zunächst die Forderung: „Unterschiedliche Buchstaben bedeuten unterschiedliche Steinarten, Groß- und Kleinschreibung bedeuten verschiedene Farben. Bestimme die Stellung und den letzten Zug. – b) horizontal gespiegelt.“

Wie kann man solche Aufgaben lösen? Versuchen wir also, aus den Buchstaben Rückschlüsse auf die Steine zu ziehen. Vielleicht wird zwischendurch schon die Farbverteilung klar, vielleicht auch erst zum Schluss.

Hier ist die Klärung, was Könige und was Bauern sind, recht einfach. Die Bauern sind Cc – nicht etwa, weil gleich sieben Mal „C“ vorkommt, mit solchen “plausiblen” Überlegungen wäret ihr schon bei einigen Rebus-Aufgaben gescheitert! Nein, aber alle anderen Steine stehen mit mindestens einem Exemplar auf der ersten bzw. achten Reihe. Und auch die Könige können wir leicht als Rr identifizieren: Sie sind die einzigen Steine, die je Farbe exakt einmal vorhanden sind.

Nun wird es etwas schwieriger.

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Retro der Woche 44/2024

Die US-amerikanische Zeitschrift StrateGems, herausgegeben von Mike Prcic, musste nach 25 Jahren und exakt 100 Ausgaben zum Ende des Jahres 2022 eingestellt werden. Das war ein Riesenverlust gerade für und Retrofreunde, war die entsprechende Abteilung über die gesamten 25 unter den besten, die die Welt zu bieten hatte.

Aus dem letzten Informalturnier hatte ich bereits den ersten Preis von Silvio Baier bei den orthodoxen Beweispartien vorgestellt; heute möchte ich mit euch das zweitplatzierte Stück betrachten.

Michel Caillaud
StrateGems 2022 – Ein Dankeschön an Mike Prcic, 2. Preis
Beweispartie in 30 Zügen (15+15)

 

Leicht zu sehen, dass bei Weiß genau ein Turm fehlt; die schwarze Bauernstellung verrät aber nichts über ein mögliches Schlagfeld. Bei Schwarz fehlt im Diagramm ein Bauer: Entweder wurde [Bf7] auf f3 geschlagen — dann starb der weiße Turn irgendwo auch der f-Linie, vom [Bg7] geschlagen, oder ein Offizier hat sich auf f3 geopfert und [Bg7] den durch Umwandlung ersetzt. In diesem Fall können wir wieder noch nichts über das Sterbefeld des weißen Turms aussagen.

Versuchen wir einmal, die schwarzen Züge zu zählen: Dabei kommen wir auf 3+2+5+8+5+5=28. Bei König und den Türmen bin ich von der langen Rochade ausgegangen: Egal, welcher Turm auf c7, welcher auf h3 steht, beide brauchten zwei bzw. drei Züge dorthin — nach c7 unabhängig davon, ob lang rochiert wurde oder nicht. Die Rochade allerdings spart einen schwarzen Königszug.

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Retro der Woche 42/2024

Bleiben wir nach dem Retro der Woche 39/2024 und der „Zwischendurch“-Beweispartie von Retos gestrigen 50. Geburtstag noch einen Moment bei Aufgaben von ihm. Das heutige Stück ist wiederum recht typisch für den Komponstionsstil von Reto Aschwanden: Nicht besonders lang, aber strategisch mit Tiefgang und Überraschungen. Preisrichter Michel Caillaud hatte darüber gesagt: „A stunning masterpiece which I expect will be widely reproduced.“

Dann wird es auch höchste Zeit, dass wir es uns hier anschauen…

Reto Aschwanden
Messigny 2004, 1. Preis
Beweispartie in 18 Zügen (12+14)

 

Bei Weiß fehlen vier Bauern, bei Schwarz zwei; alle Offiziere sind noch an Bord. Zählen wir erst einmal die sichtbaren schwarzen Züge: 2+2+4+3+3+4=18 – alle schwarzen Züge sind also erklärt. Damit der König in zwei Zügen nach h8 kommen kann, muss er rochieren: Ohne Rochade brauchte er drei für diesen Weg, ohne dass damit ein Turm einen Zug einsparen konnte. Also müssen wir die Rochade als gesetzt nehmen.

Und wir wissen, dass die fehlenden Bauern auf ihren Partieanfangsfeldern geschlagen wurden, denn sie hatten keine Zeit zu ziehen. Damit ist klar, dass sie auf c7 und g7 geschlagen wurden.

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Retro der Woche 41/2024

Am gestrigen Samstag hat auf der Mitgliederversammlung der Schwalbe, deutsche Vereinigung für Problemschach e.V. deren bisheriger Vorsitzende Bernd Gräfrath nach zehn Jahren im Amt nicht erneut kandidiert.

Ich hoffe, dass er nach einer verdienten Ruhe- und Erholungspause in Zukunft wieder vermehrt speziell Beweispartien komponiert, da ich seine Aufgaben sehr mag – besonders seine Märchen-Beweispartien, die häufig bei eingängigen Bedingungen einen „Kampf gegen die Forderung“ zeigen: Manchmal werden Märchenbedingungen genutzt, um Aufgaben korrekt zu bekommen – Bernd nutzt sie hingegen, um eben die naheliegenden Möglichkeiten der Bedingungen außen vor zu lassen, im Gegenteil die Schwierigkeiten zu betonen, die sich durch Zugeinschränkungen oder andere “Störungen des Betriebsablaufs” aufgrund der Bedingung ergeben können.

So auch in unserem heutigen Beispiel: Beim Längstzüger muss Schwarz den geometrisch längsten legalen Zug ausführen; bei mehreren gleichlangen hat er freie Auswahl. Die Länge eines Zuges wird von Feldmittelpunkt zu Feldmittelpunkt gemessen – und das zeigt zum Beispiel „nach Pythagoras“, dass a1-f6 länger ist als a1-a7. Bei der Rochade werden die Längen beider Teilzüge addiert.

Bernd Gräfrath
König & Turm 2011, 4. Preis
Beweispartie in 13 Zügen, Längstzüger (16+10)

 

„Thematisches Lösen“ kann auch die ursprüngliche Veröffentlichungsquelle berücksichtigen, und der Titel der Zeitschrift, die Hanspeter Suwe lange Zeit als „Einzelkämpfer“ herausgegeben hat, sagt schon eine Menge über deren thematischen Schwerpunkt aus: Die Rochade. Und auch der Blick aufs Diagramm zeigt die „Lange-Rochade-Stellung“ bei Weiß, und Schwarz steht spungbereit – dazu müsste Weiß nur die Überdeckungen von d8 und c8 beseitigen?

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Retro der Woche 39/2024

Zu Beginn des Jahrtausends tauchte plötzlich ein junger Stern aus der Schweiz am Beweispartien-Himmel auf, der schon zehn Jahre zuvor als Teenie mit orthodoxen Zwei- und Dreizügern aufgefallen war, dann ein paar Jahre später mit extremen Märchenschach-Aufgaben auf sich aufmerksam machte, und nun rasant mit seinen Beweispartien begeisterte: Reto Aschwanden, der vor einiger Zeit das sehr schnelle und auf quasi allen Rechnerplattformen laufende Prüfprogramm Stelvio für Beweispartien vorgestellt hatte, das er fleißig weiterentwickelt.

Heute will ich seine Debüt-Beweispartie in der Schwalbe in Erinnerung rufen:

Reto Aschwanden
Die Schwalbe 2001
Beweispartie in 19,5 Zügen (15+14)

 

Bei Weiß fehlt ein Springer, bei Schwarz die e- und f-Bauern. Der einzig sichtbare Schlagfall ist b2xXc3. Dort kann keiner der schwarzen Bauern direkt gefallen sein – dafür hätte etwa [Be7] zweimal schlagen müssen, wofür die weißen Schlagopfer fehlen. Also muss sich einer der beiden schwarzen Bauern umgewandelt haben, um dann selbst geschlagen worden zu sein oder einen Original-Offizier zu ersetzen. Der andere Bauer ist dann auf seiner Linie geschlagen worden. Damit haben wir alle Schlagfälle geklärt, denn der Umwandlungsbauer muss ja, um hinter die weiße Bauernkette zu kommen, den weißen Springer geschlagen haben.

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