Retro der Woche 08/2025

Da haben die Marketing-Spezialisten mal wieder zugeschlagen! Nachdem vor einiger Zeit die Bezeichnung Fischerandom-Chess vielfach schon durch Chess-960 ersetzt worden war, musste es vor ein paar Jahren plötzlich „intellektueller“ klingen: Wie wäre es mit einem Mix aus arabischen und römischen Ziffern? Und schon war Chess-9LX geboren, was dann aber doch zu intellektuell gewesen muss, denn nun hat eine hoch dotierte und extrem gut besetzte Turnierreihe begonnen unter dem Namen Freestyle Chess.

Komisch, zunächst musste ich da an Buckelpisten denken, aber Namen sind Schall und Rauch – und „Ryder heißt jetzt Twix, sonst ändert sich nix“ (Wer kann sich daran noch erinnern?). So auch hier: Weiterhin wird nach orthodoxen Regeln gespielt, nur dass die Anfangsstellung ausgelost und dann symmetrisch aufgebaut wird mit den Einschränkungen, dass die beiden Läufer einer Farbe auf unterschiedlich farbigen Feldern stehen und der König stets zwischen den beiden Türmen platziert wird. Die einzige Besonderheit bei den Zügen ist die Rochade – sie wird so ausgeführt, dass König und Rochadeturm „orthodox“ landen.

Am Freitag hat nun Vincent Keymer das Freestyle Chess Grand Slam Turnier in Weissenhaus (und 200.000 Dollar) gewonnen, sich dazu bei normaler Turnier-Bedenkzeit (ja, solche Turniere werden auch heute noch gespielt) im Halbfinale gegen Magnus Carlsen und im Finale gegen Fabiano Caruana durchgesetzt. Seine Gewinn-Strategie war sehr einfach: In den Mini-Matches über zwei Partien jeweils die erste gewinnen und die zweite sicher remis halten – das hatte bereits im Viertelfinale geklappt.

Dieses Turnier ist für mich Anlass, heute mal wieder eine Chess-960 Beweispartie vorzuführen: Ich bleibe zumindest erst einmal bei dem Namen.

Per Olin
Retros Mailing List 3.12.2012, Olli Heimo gewidmet.
Beweispartie in 16,0 Zügen Chess-960 (14+16)

 

Zunächst wollen wir die Partieanfangsstellung bestimmen, und dabei hilft uns wie so oft das Zählen der (sichtbaren) Züge. Bei Schwarz sind wir da sehr schnell fertig – wir wissen allerdings noch nicht, welche möglichen Umstellungen auf der achten Reihe notwendig waren, denn wir sehen schon, dass der König und der nun auf e8 stehende Turm schon gezogen haben müssen, denn ansonsten müsste ja sTe8 „westlich“ von seinem König stehen.

Und wie schaut es bei Weiß aus?

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Retro der Woche 07/2025

Bleiben wir noch ein wenig bei den ziemlich aktuellen Aufgaben, die zum WCCI 2022 bis 2024 eingesendet worden sind. Alle Aufgaben sind übrigens zum Anschauen über die WFCC-Seite abrufbar.

Die heutige Beweispartie, die ich herausgesucht habe, ist nicht besonders lang, aber es ist auch nicht viel direkt aus der Stellung zu erkennen. Bei Weiß fehlt ein Bauer, bei Schwarz ein Turm.

Ofer Comay
The Problemist 2023
Beweispartie in 17 Zügen (15+15)

 

Bei Weiß fehlt ein Bauer, bei Schwarz ein Turm. Sichtbar ist nur der Schlag axb6 – also nichts einfacher als das: sTb6 axb6 axb6, und alle Schläge sind erklärt. Ganz so einfach ist es aber doch nicht, wenn wir versuchen, [sTh8] nach b6 zu spielen, denn [sTa8] ist ja zu dieser Zeit noch eingeklemmt, kann sich also keinesfalls auf b6 opfern. Schnell sehen wir, dass Th8 seine Heimat im Norden gar nicht verlassen konnte!

Also steht auf b6 gar kein schwarzes Schlagopfer zur Verfügung, also funktioniert auch unser Bauern-Trick nicht. Also muss sich irgendein weißer Offizier auf b6 geopfert haben, der wurde durch den umgewandelten weißen a-Bauern ersetzt, und [Th8] starb, wie wir schon gesehen haben, im hohen Norden.

Zählen wir einmal die offensichtlichen Züge: Bei Schwarz sind das, Rochade voraussetzend, 2+3+2+2+2+2=13, bei Weiß sehen wir 0+3+1+3+0+1=8 – holla, das ist erschreckend! Doch wir wissen ja, dass Weiß umgewandelt hat, damit haben wir mindestens noch fünf Züge des [wBa2]. aber auch damit kommen wir nur auf 13. Dennoch sind auf beiden Seiten noch vier Züge frei?!

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Retro der Woche 06/2025

Vor einiger Zeit schon hatte ich mich bereit erklärt, als einer der fünf Richter der Retroabteilung des 12. WCCI (World Championship in Composing for Individuals) für die Jahre 2022 bis 2024 zu fungieren. Vor einigen Tagen erhielt ich die 126 (!) Aufgaben von 28 Teilnehmern, die ich nun in den kommenden Wochen „à la FIDE-Album“ bewerten muss.

Das Gute daran ist natürlich, dass ich dabei auch einige Aufgaben entdecke, die ich euch hier vorführen kann – und damit will ich gleich heute beginnen.

Vidmantas Satkus
Champagne-Turnier Batumi 2023, 2. Preis
Hilfsmatt in 2 Zügen, (11+15)

 

Wenn solch eine Aufgabe in einem Retro-Turnier auftaucht, ist es vielleicht ganz sinnvoll, anstatt sogleich mit Löseversuchen zu beginnen, die Stellung genauer zu betrachten. Beginnen wir also mit den Schlagfällen.

Schwarz fehlt nur ein Bauer, Weiß hat den fehlenden schwarzen Stein mittels axb geschlagen – das Schlagopfer kann kein Bauer gewesen sein. Also muss sich der fehlende Bauer umgewandelt haben.

Bei Weiß fehlt von jeder Steinart jeweils ein Vertreter, wir sehen aber nur zwei schwarze Doppelbauern im Diagramm. Nehmen wir einfach an, deren Schläge seien cxd und exf gewesen. Macht euch bitte am Ende unserer Überlegungen klar, dass die genauso bleiben, wenn gxf geschehen sein sollte. Also sind noch drei Schläge frei?

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Retro der Woche 05/2025

Preisrichter Richard Dunn hatte seinen Bericht zu den 2022er Retro-Urdrucken der Schwalbe in zwei Abteilungen aufgeteilt – nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, in „orthodox“ und „Märchenaufgaben“, sondern in „Beweispartien“ sowie „Retraktoren und andere Typen“, und das halte ich für sehr sinnvoll: Eine Märchen-Beweispartie ist mit einer orthodoxen näher „verwandt“ als mit etwa einem Verteidigungsrückzüger gleicher Märchenart: die Forderung „Beweispartie in n Zügen“ ist unabhängig vom „orthodoxen“ oder etwas abgeänderten Regelwerk, während Madrasi-Retraktoren völlig andere Ideen verfolgen als Madrasi-Beweispartien.

Michel Caillaud
Die Schwalbe 2022, 3. Preis
Beweispartie in 14 Zügen, Circe Rex Inklusiv (15+16)

 

Die Regel, die Michel bei seiner heutigen Aufgabe anwendet, ist eigentlich selbsterklärend: „Ganz normales“ Circe, bei der aber auch die Könige geschlagen und wiedergeboren werden können. „Matt“ ist ein König erst, wenn er angegriffen ist, sein Schlag nicht zu verhindern ist (so weit „orthodox“) UND die Wiedergeburt zu Hause nicht möglich ist.

Wie kann man das Lösen solcher Aufgaben angehen? Etwa, indem man, wie Silvio Baier „thematisch“ denkt: „Was könnte Michel bei dieser Bedingung und den prägnanten Rochadestellungen wohl aufs Brett gezaubert haben? Dc1 und Dg8 suggerieren auch gleich noch zusätzlich die Idee. Diese ist nett, sparsam und lösbar hingestellt.“

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Retro der Woche 03/2025

Die Aufgabe, die ich heute vorstelle, hatte ich für den 2. Februar eingeplant – zum 80. Geburtstag des Verfassers. Nun ist Henrik Juel am 3. Januar verstorben – und so wird aus der Feieraufgabe ein Erinnerungsstück.

Henrik Juel
Thema Danicum 1997, 2. Preis
Ergänze einen Stein! Letzter Zug? (8+9)

 

Kaum zu glauben, dass die beiden Fragen eindeutig bei diesem Kindergarten-Problem (neben den Königen sind nur Bauern auf dem Brett – ein Begriff, den Peter Kniest eingeführt hatte) beantwortet werden können.

Machen wir uns zunächst einmal Gedanken über die erforderlichen Schläge: Wir sehen sieben schwarze Schläge mit seinen Bauern: d7xe6, g7xf6, h7xg6xf5xe4xd3xc2. Zusätzlich Wurde Lc1 zu Hause geschlagen, somit sind alle fehlenden weißen Steine erklärt. Damit ist übrigens auch schon klar, dass wir nur einen schwarzen Stein einsetzen können!

Bei Weiß sehen wir direkt drei Bauernschläge, die wir auch ziemlich genau verorten können: hxg3, exd3 sowie cxd. Wie konnte denn der fehlende [Ba2] verschwinden? Er musste sich auf d8 umwandeln, um sich anschließend schlagen zu lassen. Damit haben wir das Ceriani-Frolkin-Thema schon jetzt erkannt.

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Retro der Woche 49/2024

Nach dem Glückwunsch hier an Thierry Le Gleuher zu seinem Geburtstag am letzten Donnerstag möchte ich euch heute eine meiner Lieblings-Beweispartien überhaupt zeigen – ihr ahnt jetzt den Autor sicher schon?!

Bevor ich mit euch zusammen die Aufgabe genauer anschaue, will ich ausnahmsweise vorab das Thema verraten, das für das Turnier gefordert war: „Unsichtbarer Platzwechsel“. Ratet doch einmal, welche zwei Steine diesen Platzwechsel durchführen?

Thierry Le Gleuher
Lois-60-Geburtstagturnier 2007, 1. Preis
Beweispartie in 21 Zügen (14+15)

 

Bei Weiß fehlen die beiden Zentralbauern, bei Schwarz die Dame. Die Bauernstellung verrät recht wenig – sie sagt uns nur, dass auf c6 keiner der beiden fehlenden weißen Bauern geschlagen werden konnte: Wenn, könnte es sowieso nur [Bd2] gewesen sein, der hätte dxD auf der c-Linie spielen müssen. Aber da stand [Bd7] noch zu Hause, also konnte die Dame sich noch nicht „draußen“ opfern. Also muss mindestens ein weißer Bauer umgewandelt haben, um das Schlagopfer auf c6 zu ersetzen – das Phoenix-Thema haben wir also schon erkannt.

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Retro der Woche 47/2024

Im letzten Retro der Woche hatte ich eine Aufgabe aus diesem Jahr vorgestellt — heute möchte ich genau 100 Jahre zurückspringen.

Bereits in ihrem dritten Heft im Oktober 1924 veröffentlichte Die Schwalbe einen mehr als zweiseitigen Artikel „Einführung in das Retroschach“ von Hans Klüver (4.3.1901–26.2.1989), den vielleicht der eine oder andere, der sich schon länger mit Problemschach befasst, noch von seinen Besuchen beim Andernach-Treffen und seinen dortigen Vorträgen oder Märchenturnieren persönlich kennt.

Allein das ist sicher bemerkenswert, aber auch die Länge des Beitrags, bedenkt man, dass das Heft damals einen Umfang von acht Seiten hatte.

Klüver war mit seinen 23 Jahren schon kein Problem- oder Retro-Greenhorn mehr; er hatte bereits verschiedene und bemerkenswerte Artikel zur Problemtheorie veröffentlicht, etwa seine Beiträge zur „Schnittpunkt-Systematik“ und zu „Schnittpunktphänomene in der retrograden Analyse“, ein 20-seitiger, immer noch lesenswerter Beitrag im Kongressbuch des Schachkongresses von Teplitz-Schönau 1922.

In seinem Schwalbe-Beitrag stellte er neben einem eigenen Urdruck die folgende kurz zuvor erschienene Aufgabe des Rumänen Léon Loewenton (6.1.1889–23.9.1963) vor, die didaktisch wegen ihrer Zwillingsbildung sicherlich gut für solch einen Artikel gewählt war.

Léon Loewenton
Chess Amateur 1924
a) Der weiße K hat gezogen, b) Der weiße K hat nicht gezogen. In welchem Falle kann Weiß in 2 Zügen matt setzen? (13+14)

 

In seinem Artikel geht Klüver speziell auf die Retro-spezifischen Rückzugsweisen: den Entschlag, die Entwandlung, den Entwechsel (so nannte er die Rücknahme der Rochade) und den Entkreuzschlag (Rücknahme eines Schlagens im Vorübergehen) ein.

Den folgenden Teil, in dem er die Lösung des Loewenton-Stücks vorbereitet, möchte ich wörtlich zitieren, ebenso wie seine Darstellung der Lösung, die ich aber wie üblich zunächst „verstecke“:

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